DDR—Erinnern, Vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms
2010; University of Wisconsin Press; Volume: 102; Issue: 3 Linguagem: Alemão
10.1353/mon.2010.0003
ISSN1934-2810
Autores Tópico(s)Memory, Trauma, and Commemoration
ResumoReviewed by: DDR—Erinnern, Vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms Henning Wrage DDR—Erinnern, Vergessen. Das visuelle Gedächtnis des Dokumentarfilms. Herausgegeben von Tobias Ebbrecht, Hilde Hoffmann und Jörg Schweinitz. Marburg: Schüren, 2009. 352 Seiten + zahlreiche Abbildungen. €29,90. Bemerkenswert an diesem Buch ist schon der Umschlag: Im Vordergrund ein Screenshot aus Jürgen Böttchers Film Die Mauer: Dieser spielt auf eine Einstellung an, in der der Regisseur in einer komplex-selbstreflexiven Figur die ganze Ikonographie des "antifaschistischen Schutzwalls" auf dessen Reste spiegelt—und durch ein Zoom out auf Publikum und Projektor noch das Dispositiv dieser Inszenierung verdeutlicht. Es entsteht ein Palimpsest historischer, politischer und kultureller Tropen, das auf dem Titelbild des hier besprochenen Buchs nun zum Ausgangspunkt eines weiteren Palimpsests wird, wenn durch den transluzenten Screenshot hindurch eine S-Bahn auf der für DDR-Bürger gesperrten Untergrundstrecke in Berlin sichtbar wird. Schichten über Schichten visuell konstruierter Erinnerung mithin, die bereits darauf einstimmen, dass die Erinnerung der DDR durch den Dokumentarfilm ein komplexes Unternehmen ist, und dies trotz oder gerade wegen der "Evidenzeffekte" (305), die die Unmittelbarkeit und Referenzialität dieser Gattung zu kommunizieren scheinen. Bemerkenswert an diesem Buch ist, zweitens, die für einen Sammelband überraschend weitreichende theoretische Kohärenz: Beinahe durchweg beziehen sich die Autoren auf das von Jan und Aleida Assmann entwickelte Modell des kulturellen Gedächtnisses und insbesondere auf die Unterscheidung von Funktions- und Speichergedächtnis, wobei das Funktionsgedächtnis als Gedächtnis ersten Grades—bewusstes kulturelles Wissen, das innerhalb der Gesellschaft zirkuliert und sie legitimiert—gedacht ist, das Speichergedächtnis als Sammelbecken "unbewusster," nicht aktualisierter Erinnerung, als "grundsätzliche Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens und kulturellen Wandels" (Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München, 1999, S. 130 ff.). Die Anstrengung der Herausgeber, die einzelnen Beiträgerinnen und Beiträger zumindest zur Auseinander setzung mit einem gemeinsamen theoretischen Modell zu verpflichten, ist unbedingt anerkennenswert: Sie macht diesen Sammelband zu einem Themenband im besten Sinn, selbst wenn nicht jeder Beitrag sie über Donald Rumsfelds berühmte Äußerung vom 12. Februar 2002 hinaus fruchtbar macht ("[T]here are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns—the ones we don't know we don't know." Department of Defense news briefing, 12.2.2002, hier zitiert nach Julian Baggini, The Duck That Won [End Page 430] the Lottery: 100 New Experiments for the Armchair Philosopher. Penguin Group, 2009, 22). Da der Assmann'sche Ansatz zudem sehr grundsätzlich Makroprozesse kulturellen Erinnerns beschreibt—und sich folglich nicht ohne weiteres für die DDR-spezifischen Einzelanalysen operationalisieren lässt—greifen eine Reihe von Autoren verständlicherweise auch auf andere theoretische Modelle zurück (Kerstin Stutterheim auf Boris Groys, Tobias Ebbrecht auf Walter Benjamin, Vrääth Öhner auf Michel Foucault usf.). Drittens bietet das Buch einen durchweg profunden Überblick über die Geschichte des Dokumentarfilms in der DDR, nach der DDR und über die DDR. Im ersten Großabschnitt "Was von der DDR übrigbleibt: Erinnerungssplitter und Reflexionen" stechen vor allem die Beiträge von Klaus Kreimeier (eine eher essayistisch angelegte Betrachtung der Dokumentarfilme des Regisseurs und Malers Jürgen Böttcher) und Günther Agde (über die Leipzig-Filme Gerd Kroskes) hervor: Agde erschließt im filmästhetisch wohl präzisesten Aufsatz des Bandes Kroskes "dreiteiliges Gruppenpsychogramm" (92) von Straßenkehrern in Leipzig zur unmittelbaren Wendezeit und fünf bzw. fünfzehn Jahre später und damit einen persönlichen, wenn auch zeithistorisch signifikanten Blick auf das Ende der DDR, den Kroske durch die Reflexion der Protagonisten ergänzt, wenn er sie in den späteren Teilen mit großformatigen Aufnahmen ihrer selbst konfrontiert—ein Verfahren, das ähnlich auch aus André Hellers "Im toten Winkel" (2002) vertraut ist. Der Abschnitt "Zwischen Alltag, Auftrag und Politik: Dokumentarfilm und Gedächtnispolitik" entwickelt die Innenperspektive des DDR-Dokumentarfilms, der weniger als unmittelbares Dokument denn als Zeugnis historisch gewordener Selbst- und Fremdbild-Konstruktionen im Spannungsfeld von offiziellem Diskurs und Alltagswelt erscheint, wie die Beiträge von Judith Keilbach (über die Filme von Andrew und Annelie Thorndike), Ramón...
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