Das “Graphen Flagship” - ein europäisches Großforschungsprojekt
2015; Wiley; Volume: 127; Issue: 32 Linguagem: Alemão
10.1002/ange.201504842
ISSN1521-3757
Autores Tópico(s)Linguistic research and analysis
Resumo“…︁ Die Europäische Kommission beschloss 2013, das Graphene-Flagship-Projekt zu starten. Dieses Projekt bringt führende wissenschaftliche Institutionen aus ganz Europa mit unterschiedlicher Expertise zusammen. Das Graphen Flagship ist (zusammen mit dem Human Brain Project) das größte koordinierte Forschungsprojekt, das jemals in Europa gefördert worden ist …︁” Lesen Sie mehr im Editorial von Andreas Hirsch. Synthetische Kohlenstoffallotrope stehen gegenwärtig im Fokus der Materialwissenschaften und der Nanotechnologie. Auf die punktförmigen Fullerene und die eindimensionalen Kohlenstoffnanoröhren folgte das zweidimensionale Graphen als jüngster Vertreter dieser Stoffklasse. Seine präzedenzlosen physikalischen Eigenschaften haben zahlreiche Erwartungen im Hinblick auf praktische Anwendungen geweckt, sowohl innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft als auch bei Laien und insbesondere bei Politikern. Der Begriff Graphen, der ein zweidimensionales konjugiertes Polymer beschreibt, das genau einer einzelnen Lage von Graphit entspricht, wurde von Hans-Peter Boehm propagiert. Dieser hat bereits in den 1960er Jahren Pionierarbeit auf dem Gebiet der nasschemischen Graphenoxid(GO)-Chemie geleistet. Unter anderem gelang ihm die TEM-Charakterisierung von individuellen Schichten von GO und reduziertem GO. Diese Untersuchungen waren zu jener Zeit sehr bemerkenswert, doch darf man nicht vergessen, dass GO ein oxofunktionalisiertes Graphen mit einer sehr schlecht definierten polydispersen Struktur mit vielen Löchern in der Basisebene ist. Forschung an intaktem Graphen mit seinen weit besseren Eigenschaften wurde erst möglich, nachdem Geim und Novoselov 2004 die Herstellung und detaillierte physikalische Charakterisierung von individuellen Graphenschichten beschrieben hatten. Sie nutzten einen einfachen Tesafilm, um Graphit mechanisch abzuschiefern. Dieser wissenschaftliche Durchbruch initiierte eine Vielzahl an systematischen Studien weltweit und wurde 2010 mit dem Nobelpreis für Physik gewürdigt. Die Zahl an Veröffentlichungen auf diesem Gebiet (ermittelt durch Scifinder) ist von etwas mehr als 1000 im Jahr 2010 auf mehr als 5000 im Jahr 2014 gestiegen.1 Was Theoretiker bereits vor Jahrzehnten vorhergesagt hatten, erwies sich nun als richtig. Die Eigenschaften von Graphen unterscheiden sich signifikant von denen von Graphit, in dem die Schichten in einer ABAB-Stapelsequenz korreliert sind. Graphen ist ein mechanisch ultrastarkes Material mit einer Zugfestigkeit von 130 GPa, die um Größenordnungen höher ist als die von Stahl (0.25–2.6 GPa). Zugleich ist Graphen ein exzellenter elektrischer und Wärmeleiter. Seine Ladungsträger sind masselose Dirac-Fermionen. Damit werden in der Festkörperphysik Spin- 1/2-Teilchen beschrieben, deren Energie direkt proportional zum Betrag ihres linearen Impulses ist, die also als Analoga beispielsweise der (masselosen) Neutrinos betrachtet werden können. Geometrisch gesehen besteht Graphen nur aus einer Oberfläche, und konzeptionell ist es der leistungsfähigste chemische Sensor, der selbst einzelne Moleküle detektieren kann. All diese und eine Reihe weiterer bemerkenswerter Eigenschaften sind kombiniert mit hoher Flexibilität, Stabilität unter Umgebungsbedingungen und annähernd vollständiger Transparenz für sichtbares Licht. Diese Befunde führten dazu, dass eine ganze Reihe von revolutionären Anwendungen in Schlüsseltechnologien in Aussicht gestellt wurde, in der Nanoelektronik (z. B. transparente Elektroden, flexible Touchscreens), für mechanisch stabilisierte Materialien (z. B. ultrareißfeste Textilien) und Sensoren (z. B. Einzelmoleküldetektion), in Batterien und Superkondensatoren. In vielen Fällen wurde auch schon gezeigt, dass solche Anwendungen prinzipiell möglich sind. Nicht nur wissenschaftliche Labors, sondern auch die Industrie ist an diesen spannenden Entwicklungen sehr interessiert. Und das ist auch der Grund, warum sich die Europäische Kommission 2013 entschieden hat, als Teil der “FET (Future and Emerging Technologies) Flagship Projects” ein “Graphene Flagship” auf den Weg zu bringen, um die enormen wissenschaftlichen und technologischen Herausforderungen von Graphen anzugehen. Die Idee ist, führende wissenschaftliche Institutionen aus ganz Europa mit unterschiedlicher Expertise zusammenzubringen, um auf diese Weise eine Prozess- und Wertschöpfungskette europäischer Innovation aufzubauen. Für eine sehr detaillierte Beschreibung des Graphen Flagship siehe: http://graphene-flagship.eu/. Das Graphen Flagship ist (zusammen mit dem zweiten FET Flagship Project, dem Human Brain Project) das größte koordinierte Forschungsprojekt, das jemals in Europa gefördert worden ist. Was die reine Größe angeht, wird es manchmal mit dem amerikanischen Manhattan Project der 1940er Jahre verglichen. Das Projekt begann mit einer noch andauernden Dreijahresphase innerhalb des Seventh Framework Programme for Research (FP7) der EU. Es umfasst 76 akademische und industrielle Partner aus 17 Ländern. 2016 wird es 142 Partner aus 23 Ländern haben. Etwa ein Drittel der neuen Mitglieder sind Unternehmen. Die gesamten Projektkosten belaufen sich auf eine Milliarde Euro in zehn Jahren. Die Hälfte des Geldes kommt von der Europäischen Kommission, der Rest aus anderen Quellen, insbesondere von der beteiligten Industrie. Es ist klar, dass ein solch gigantisches Projekt eine effiziente Organisation erfordert, die auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Partnern anregt. Die vorgeschlagene Arbeitsphilosophie des Flagship ist sehr anschaulich in einem offiziellen Video demonstriert, das von der University of Cambridge produziert wurde (https://www.youtube.com/watch?v=dTSnnlITsVg). Um eine möglichst optimale wissenschaftliche und technologische Abwicklung des Graphene Flagship zu gewährleisten, wurden 16 Arbeitspakete eingerichtet. Davon sind 11 (siehe Tabelle 1) entlang Themen ausgerichtet. Die verbleibenden 5 widmen sich dem Projektmanagement, dem Technologietransfer und der Verbreitung. Arbeitspaket Leiter 1: Materialien Prof. Mar Garcia Hernandez, Spanien; Prof. Jonathan Coleman, Irland 2: Gesundheit und Umwelt Prof. Maurizio Prato, Italien; Prof. Alberto Bianco, Frankreich 3: Graphen-Grundlagenwissenschaft und 2D-Materialien jenseits von Graphen Prof. Vladimir Falko, Großbritannien; Dr. Alberto Morpurgo, Schweiz 4: Hochfrequenzelektronik Dr. Daniel Neumaier, Deutschland; Prof. Herbert Zirath, Schweden 5: Optoelektronik Prof. Andrea Ferrari, Großbritannien; Prof. Frank Koppens, Spanien 6: Spintronik Prof. Bart van Wees, Niederlande; Prof. Stephan Roche, Spanien 7: Sensoren Prof. Herre van der Zant, Niederlande; Prof Pertti Hakonen, Finnland 8: Flexible elektronische Elemente Dr. Jani Kivioja, Großbritannien; Dr. Sebastiano Ravesi, Italien 9: Energie Dr. Etienne Quesnel, Frankreich; Dr. Vittorio Pellegrini, Italien 10: Nanokomposite Dr. Vincenzo Palermo, Italien; Dr. Xinliang Feng, Deutschland 11: Produktion Dr. Ken Teo, Großbritannien; Dr. Nalin Rupesinghe, Großbritannien Bereits während der Initiationsphase wurden zahlreiche wissenschaftliche Durchbrüche erreicht. So hat die Gruppe von Jonathan Coleman vom Trinity College in Dublin eine sehr einfache und effiziente Methode erarbeitet, um Graphen und dispergierten Graphit im makroskopischen Maßstab nasschemisch zu erzeugen. Das ist sehr wichtig, denn technische Anwendungen erfordern die Verfügbarkeit von Graphen in großen Mengen. Innerhalb desselben Arbeitspakets (Materialien) beschäftigt sich meine Arbeitsgruppe mit der nasschemischen Funktionalisierung von Graphen. Eine Möglichkeit der chemischen Modifikation ist die kovalente Funktionalisierung an beiden Seiten der Basisebene. Solche Strukturänderungen erhöhen die Löslichkeit, machen das 2D-Material prozessierbar, beeinflussen die optoelektronischen Eigenschaften und ermöglichen die Kombination der Eigenschaften von Graphen mit denen anderer Stoffklassen. Im Bereich der neuen Technologien und der Bauteileproduktion konnten flexible graphenbasierte Displays von Plastic Logic, einem Spezialisten für flexible Elektronik, in Zusammenarbeit mit dem Flagship-Partner Cambrigde Graphene Center realisiert werden. Des Weiteren wurden Graphen-Faseroptiken entwickelt, die ein großes Potenzial für den Aufbau von transozeanischen Telekomunikationssystemen haben. Die Verbesserung von konventionellen Lithiumionenbatterien ist ein weiteres Ziel, bei dem graphenbasierte Materialien eine Schlüsselrolle spielen können. Unter der Leitung von Vittorio Pellegrini vom Istituto Italiano di Tecnologia in Genua wurden graphenbasierte wiederaufladbare Batterien entwickelt. Diese sind für den Einsatz in portablen elektronischen Geräten geeignet. Die meisten Partner im Graphen Flagship sind derzeit Physiker, Ingenieure und Materialwissenschaftler. Chemiker, insbesondere solche, die etwas von Synthese verstehen, sind in der Minderheit, obwohl die Chemie wohl eine Schlüsselrolle für die weitere Graphenforschung spielen wird. Mit ihr können nicht nur Eigenschaften durch chemische Funktionalisierung und Manipulation verbessert werden, sondern sie kann auch andere Synthesekonzepte beisteuern. Ein besonders schöner Erfolg ist die Bottom-up-Synthese von strukturell definierten Nanographenen und Graphennanobändern durch Klaus Müllen vom MPI in Mainz und Xinliang Feng von der Technischen Universität Dresden. Die Gesamtfördersumme für das Graphen Flagship ist sehr hoch, aber man muss dabei bedenken, dass ab 2016 insgesamt 142 Partner beteiligt sein werden. Das bedeutet, dass heruntergebrochen auf die meisten der beitragenden Gruppen die Förderung der Projekte vergleichbar ist mit der in anderen nationalen oder europäischen Programmen. Der wichtigste Vorteil des Flagship besteht sicherlich darin, dass eine große Plattform geschafft wird, auf der sowohl eine sehr breite interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Partnern als auch eine Wertschöpfungskette aufgebaut werden können. Allerdings erfordert das auch sehr aufwendige bürokratische und logistische Anstrengungen, einschließlich sehr kurzer Berichtsperioden im Hinblick auf angestrebte und tatsächlich erreichte Fortschritte und Arbeitsergebnisse. Die Erfahrung zeigt, dass in den meisten Fällen revolutionäre wissenschaftliche Entwicklungen nicht das Ergebnis eines eng definierten Forschungsgesamtplans sind. Die Frage, ob ein kleineres Konsortium mit einem größeren Budget für die einzelnen Gruppen effizienter wäre, bleibt offen. Auf jeden Fall aber ist das Potenzial von Graphen im Hinblick auf technische Anwendungen enorm. Der einzige Weg, um hier in absehbarer Zeit Erfolg zu haben, besteht darin, die Exzellenz von vielen Gruppen in einem gemeinsamen Forschungsverbund zu vereinen. Graphen Flagship ahoi!
Referência(s)