Artigo Acesso aberto

Einleitung: Begriffsbildung - Begriffsgeschichte: Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Konzepte

2015; Wiley; Volume: 38; Issue: 2 Linguagem: Alemão

10.1002/bewi.201501717

ISSN

1522-2365

Autores

Philipp Osten,

Tópico(s)

Philosophical and Historical Studies

Resumo

Anlässlich ihres 50. Jubiläums wollte sich die Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte ihrer Wurzeln besinnen. Für ihre Jahrestagung, die Ende Mai 2014 in Heidelberg stattfand, und deren Beiträge in diesem und in dem folgenden Heft der Berichte zur Wissenschaftsgeschichte versammelt sind, wählte sie einen Titel, der gleichermaßen auf die Werke Karl Eduard Rothschuhs, Ludwik Flecks und die begriffsgeschichtlichen Grundsatzarbeiten der 1960er und 1970er Jahre anspielte. Er gab die Richtung vor: Naturwissenschaftliche Begriffe formen ihren Inhalt, sie ebnen Konzepte, mit denen sie wiederum im Einklang stehen, und es kommt ihnen eine wandelbare und bisweilen paradigmatische Bedeutung für das von ihnen umrissene Feld zu. Von großem Interesse für die Tagung, so hob das Call for Papers hervor, war die Frage, in welchem Ausmaß alltägliche Handlungen, technische Gegebenheiten, Visualisierungsprozesse und Denkkollektive die Entstehung von Begriffen und Konzepten beeinflussen. Viele aus heutiger Sicht als plausibel angesehene Konzepte wurden erst retrospektiv – sei es in einer historischen Aufarbeitung oder im Kontext fachinterner Rückbesinnung – als Erklärungsmodelle für das Denken und Handeln wissenschaftlicher Akteure konstruiert. In dieser Lesart erfüllen sie die Funktion der Abgrenzung von neuem und bisherigem Wissen und Handeln. Umstritten sind daher Versuche, aus historischer oder sozialwissenschaftlicher Perspektive universell gültige Regeln für die Entstehung wissenschaftlicher Konzepte aufzustellen. Vor 50 Jahren konstatierte Hans Blumenberg, die Wissenschaftsgeschichte sei durch das Schema der Problembildung und Ergebnisfindung geprägt, das dem der jeweils beschriebenen Wissenschaftszweige entspreche. Vor dem Hintergrund der Ost-West-Konfrontation traf Blumenberg eine denkbar pessimistische Prognose für eine Wissenschaftsgeschichte unserer heutigen Tage: Es läßt sich voraussagen, daß die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, wenn sie einmal geschrieben wird, von ganz anderer Art sein muß, als die des 17. Jahrhunderts: sie wird eine immanente Logik der theoretischen Ereignisse herauszupräparieren haben und die Ohnmacht alles Hintergründigen gegenüber dieser inneren Konsequenz feststellen müssen.1 Die Forderung, ein geschlossenes Modell der Wissenschaftsgeschichte zu schaffen, konkurriert mit dem Bemühen, historische Prozesse, soziale Interaktionen, ökonomische Zwänge und technische Details – Hintergründiges – im Kontext der Entstehungsbedingungen wissenschaftlicher Konzepte nachzuzeichnen, ohne daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Allerdings stellen gerade Konzepte mit universellem Anspruch aus historischer Perspektive besonders ergiebige Forschungsgegenstände dar. Marc Blochs ,rois thaumaturges‘, seine Analyse eines ehemals ewig gültigen Prinzips – der Fähigkeit von Herrschern, durch Berührung Krankheiten zu heilen – entstand vor über 90 Jahren. Es ist bis heute das Schlüsselwerk für die Untersuchung immerwährender Konstanten, „in ihrer Dauer und in ihrer Entwicklung“.2 Für die Heidelberger Tagung wurde bewusst ein Ansatz gewählt, der konform mit den methodischen Maximen der klassischen Begriffsgeschichte ging. Sie sollte Momente der Begriffsentstehung in den Blick nehmen, um damit jener Grauzone zwischen dem genuinen Gegenstand naturwissenschaftlicher Beobachtung und seiner begrifflichen Konstitution im Gefüge von Experimentalsystemen, Disziplinen, Lehrmeinungen und Hypothesen näher zu kommen. Doch aus dieser Aufgabenstellung ergibt sich zwangsläufig Kritik. In den vergangenen 50 Jahren haben sich Perspektiven entwickelt, die alten Katechismen entgegenstehen. Die Heidelberger Tagung – und in ihrer Folge die beiden hier eingeführten Hefte der Berichte zur Wissenschaftsgeschichte – haben das Ziel, den Wert der alten Ansätze neu zu würdigen und zugleich ihre Grenzen aufzuzeigen. Für Reinhart Koselleck, den prägenden Historiker des ,linguistic turn‘ in seiner deutschen Ausgestaltung, hatten kategoriale Grundbegriffe etwas derart Absolutes, dass ihr Realitätsgehalt ihm unveränderlich erschien und das von ihnen generierte Veränderungspotential als lediglich „immanent sprachlich“.3 Sein Programm war, „die Auflösung der Alten und die Entstehung der modernen Welt in der Geschichte ihrer begrifflichen Erfassung zu untersuchen“.4 Diese Formulierung impliziert immerhin eine anthropologische Komponente (auch die begriffliche Erfassung hat etwas mit Sinneswahrnehmung zu tun). Kosellecks Vorstellung von einer metahistorischen Natur, die außersprachlich gefasst werde,5 ließe sich dagegen ein gewisser Szientismus vorwerfen,6 denn wie anders könnte ein Begriff geprägt sein als durch Konvention. Die mit einem Begriff verbundenen Metaphern, Auslegungen und Bedeutungsschichten sind ebenso fragil wie letztendlich auch der durch sie konnotierte Begriff selbst. In der Geschichte der experimentellen Naturwissenschaften scheint die Wandelbarkeit von Begriffen außer Frage zu stehen: „In der Regel verhält es sich so, dass Begriffe, wenn sie einmal in einem Phänomenbereich haben Fuß fassen können, sich an dessen Experimentaldynamik auszurichten beginnen“, schreibt Hans-Jörg Rheinberger in seiner kurzen „Begriffsgeschichte epistemischer Objekte“, die mit der deutlichen Forderung endet, eine Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften „nur so zu konzipieren, dass sie die materielle Einbindung von Begriffen mitreflektiert“.7 Die Aussage protokolliert, wie weitgehend der alte Führungsanspruch des ,linguistic turn‘ durch die Konfrontation mit der Materie zum Einlenken gezwungen wird, ohne dass allerdings der Respekt vor den alten Errungenschaften vergessen wäre. Was der Kampf um die Anerkennung des Primats der Sprache errungen hat, ebnete dem ,practical‘ und dem ,pictorial turn‘ den Weg. Die Bedeutung, die einem Begriff und dem ihm zugehörigen Apparat zugebilligt wurde, wird erst recht akzeptiert, wenn es um die Rolle von Aufzeichnungssystemen für die Erschließung von Forschungsfeldern in den Naturwissenschaften geht. Die Ehrfurcht, die Sozialwissenschaftler in den 1960er und 1970er Jahren Grundbegriffen entgegenbrachten, gilt heute mit ähnlicher Selbstverständlichkeit Kieselgelplatte, Lackmuspapier und Massenspektrograph. Die Erfahrung, dass ein neues Aufzeichnungssystem Forschungsfelder erschließen und andere zum Einsturz bringen kann, hat diese Sichtweise – und die breite Akzeptanz für den Dekonstruktivismus ist dort ein Novum – auch innerhalb der Naturwissenschaften befördert. Zu eindrucksvoll ist beispielsweise die Geschwindigkeit, mit der nach der Einführung neuer diagnostischer Methoden lange bekannte Krankheitsbilder zu neuen Entitäten zusammengefasst werden. Wer wie ein Philatelist die Geschichte der Begriffe nach Wendepunkten einteilt, kann mehrere abgeschlossene Sammlungsgebiete identifizieren. Vor 200 Jahren war die Diskussion über den Inhalt von Begriffen in erster Linie philosophischer Natur. Während „die Anschauung“, so steht es in einem politisch dem Vormärz zuzurechnenden Conversationslexikon für alle Stände aus dem Jahr 1832, „immer etwas Einzelnes dem Geiste unmittelbar vorführt“, stelle der Begriff die Dinge „nur mittelbar, durch das ihnen Gemeinsame vor“. Daraus folge, dass Begriffe nicht die gleiche Vielfalt beinhalten könnten, wie die einzelnen, unter sie gefassten Gegenstände. Zugleich existiere nichts, „wie es in dem Begriffe gedacht wird, denn nichts existiert als etwas bloß Allgemeines“.8 Die lexikalische Bestandaufnahme protokolliert die erkenntnistheoretischen Grundannahmen des frühen 19. Jahrhunderts. Elemente davon finden sich noch in Kosellecks Definition aus den Geschichtlichen Grundbegriffen, ein Begriff müsse vieldeutig sein, gebündelt und reflektiert.9 Im akademischen Deutschland beginnt die Phase der Historisierung von Begriffen mit Diltheys Sezession der Geistes- von den Naturwissenschaften, wobei der Berliner Lehrer die lebensweltliche Prägung den naturwissenschaftlichen Begriffen zunächst vorenthalten wollte. Ausgerechnet der Freiburger Philosoph Heinrich Rickert, der zu Unrecht frei von jedem Verdacht phänomenologischer Ansätze steht,10 deduzierte die durch Dilthey vorgenommene Unterscheidung des Begriffs in den Natur- und Geisteswissenschaften als unhaltbar. Er weigerte sich, den Naturwissenschaften die Rolle zuzubilligen, das „dauernde Sein“ in Begriffe zu fassen, und die Geschichtsschreibung darauf zu beschränken, die jeweils gültige Empirie nachzuliefern.11 Rickerts Argumentation war überwiegend logischer Art. Auch ein sich akkumulierender naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn reiche stets nur bis in die Gegenwart und sei daher zeitgebunden. Keinesfalls jedoch wollte sich Rickert auf „sonderbare Theorien“ eines „physiologischen Idealismus“ einlassen.12 Weder auf Emil Du Bois-Reymonds bemerkenswerte Anmerkung, Licht existiere erst, seit es Sinneszellen gibt, die Hell und Dunkel unterscheiden, noch auf Johannes Müllers Feststellung, Opium könne schlafinduzierend nur sein, sobald Organismen bestehen, in denen es seine Wirkung entfalten könne. Beide Beispiele nennt Rickert. Die weit darüber hinausgehende, in das Jahr 1844 zurückreichende und durch Hegels Phänomenologie inspirierte Aussage von Karl Marx, das menschliche Wesen der Natur existiere nur für den gesellschaftlichen Menschen,13 erwähnt Rickert nicht. Gerade in Hinblick auf das Verhältnis zwischen naturwissenschaftlicher Beobachtung und Begriffsgenese hätte Marx’ These den begriffsgeschichtlichen Diskurs der 1960er und 1970er Jahre maßgeblich bereichern können, sie taucht dort aber meines Wissens nach nicht auf.14 Die Diskussion über die gesellschaftliche Relevanz naturwissenschaftlicher Begriffe wurde jedenfalls bereits in der Mitte der Sattelzeit von prominenten Stimmen in politischem Sinn aufgenommen. Napoleon kritisierte die Organlehre Franz Joseph Galls mit den Worten: Auf gewisse Höcker des Schädels gründet er Neigungen und Verbrechen, die der menschlichen Natur gar nicht eigenthümlich sind, die nur aus dem Gesellschaftszustande und aus dem Übereinkommen der Menschen hervorgehen. Was würde aus dem Diebesorgan werden, wenn es kein Eigenthum gäbe? aus dem Organ der Trunkenheit wenn es keine durch Gährung berauschend gewordene Getränke gäbe? und aus dem Organ des Ehrgeizes wenn der Gesellschaftszustand nicht vorhanden wäre?15 Man könnte die kaiserliche Suada auf Gall als anekdotisch abtun und die Gallsche Organlehre als eine zu kurzlebige Schrulle der Medizingeschichte, als dass sie einen historisch relevanten Begriff hätte konstituieren können. Johannes Müller schien das Napoleon-Zitat allerdings noch über ein Jahrzehnt später so relevant, dass er es an prominenter Stelle seines Handbuchs der Physiologie in einer eigenen Übersetzung zitierte und als „ganz interessant“ hervorhob.16 Generell klaffen in den begriffsgeschichtlichen Kompendien dort große Lücken, wo es um die Definition naturwissenschaftlicher Objekte geht. Folgt man den grundlegenden Werken zur Begriffsgeschichte ab den 1960er Jahren (Ritter/Gründer/Gabriel, Brunner/Conze/Koselleck, Reichart/Schmitt, Berger/Luckmann), ist ein begriffsgeschichtlicher Diskurs immer auch ein gesellschaftlicher. Wie groß die Scheu vor der Einbeziehung gesellschaftlicher Prozesse in die Analyse der Begriffsbildung auf Seiten der Naturwissenschaften war, lässt sich an Peter Mittelstaedts Studie Der Zeitbegriff in der Physik exemplifizieren. Sein Buch ist vor allem deshalb eine verblüffende Quelle für die „reine“ Naturwissenschaftsgeschichte, weil es jeglichen Rekurs auf fachexterne Einflüsse als außerhalb der Fragestellung stehend negiert.17 Eine beispiellos konsequente Ablehnung jeder gesellschaftlichen Relevanz naturwissenschaftlicher Begriffsbildung findet sich im Spätwerk des als Mathematiker promovierten und zum Philosophen habilitierten Erhard Scheibe (1927–2010). Der Heidelberger Philosoph beginnt seinen Beitrag mit dem Titel „Mißverstandene Naturwissenschaft“, indem er Erwin Schrödingers Mahnung zitiert, eine theoretische Wissenschaft, die sich nicht bewusst sei, dass die von ihr für relevant gehaltenen Begriffe [im Original: „constructs considered relevant and momentous“] dazu bestimmt seien, zum Bestandteil des allgemeinen Weltbildes [im Original: „part and parcel of the general world picture“] zu werden, zwangsläufig vom Rest der kulturellen Menschheit abgeschlossen werde und auf lange Sicht atrophieren und verknöchern müsse.18 Für das 17. bis 19. Jahrhundert wollte Scheibe Schrödinger noch Recht geben, die Naturwissenschaften seien „groß geworden, weil sie nicht isoliert waren“. Die inzwischen eingetretene Situation erfordere indessen eine Neuorientierung.19 Scheibe begründet das mit dem dramatisch angewachsenen Erkenntnisfortschritt und der „weltanschaulichen Neutralisierung“ naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse.20 Am Ende seines Textes fällt Scheibe der eigenen Argumentation dann doch in den Rücken, indem er seine Leser dazu aufruft, nicht zu vergessen, was das eigentliche Ziel der Naturwissenschaften immer gewesen sei: „ein integrales Weltbild zu schaffen“.21 Dass auch hiermit eine Weltanschauung verbunden sein könnte, schien Scheibe nicht zu reflektieren. Was er entwarf, war genau jenes Menetekel, das Blumenberg 1965 vorausgesehen hatte. Konstruktivistische Ansätze der Wissenschaftsforschung bezeichnete Scheibe als „anthropologische Vorurteile“. Besondere Aufmerksamkeit widmete er der historischen Epistemologie, als deren Hauptvertreter er Bruno Latour identifizierte, der wie ein Ethnologe den Wissenschaftler im Labor aufsuche, wie einen ihm „unbekannten Stamm“.22 Die mögliche Bedeutung soziologischer Betrachtungsweisen für die Generierung zukünftiger naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, das Wissen um die ökonomischen Bedingungen von Forschungszusammenhängen und das Potenzial epistemologischer Reflektion lässt er bewusst außer Acht. „Wenn im Experiment Phänomene erzeugt werden können“, so Scheibe, mache es „keinen Unterschied, ob sie von der ,Natur‘ oder vom Menschen erzeugt wurden“.23 Wer sich diese Argumentation vergegenwärtigt, bekommt unmittelbar, wie in einer Contradictio in Adjecto, ihre ideologische Prägung vorgeführt, die umso mehr auf die Relevanz der Begriffsgeschichte für die Naturwissenschaften verweist. Michael Hampe warnt, die Vernachlässigung der Geschichte führe „zu einer Bewusstlosigkeit des Sprachgebrauchs und einem entsprechend niedrigen systematischen Niveau des Denkens“.24 Das ist auch ein Aufruf, sich nicht ausschließlich mit jenen Grundbegriffen zu befassen, die bereits eine offensichtliche geisteswissenschaftliche Kontur gewonnen haben.25 In einer Rezension zu Georg Toepfers Historischem Wörterbuch der Biologie fragt Falko Schmieder, ob nicht, zumindest in „Hinblick auf die neueren technowissenschaftlich basierten Entwicklungen“ der Biologie, die Begriffsgeschichte einer „Genealogie epistemischer Objekte weichen müsste“.26 In der Tat stößt die klassische Begriffsgeschichte immer dann an ihre Grenzen, wenn die zu bewertenden Diskurse einem Objekt eine entscheidende Rolle zubilligen, wie das in den Experimentalwissenschaften gelegentlich der Fall ist.27 An dieser Stelle müssen nicht erneut die bekannten Schutzheiligen der Wissenschaftsgeschichte von Bachelard zu Canguilhem, von Fleck zu Kuhn oder Knorr-Cetina, Latour, Woolgar und Pickering, Paul Feyerabend und Jaques Derrida rekapituliert werden. Das haben einschlägige Einführungen und die Editorials vieler Sammelbände konziser zusammengefasst28 als ich es könnte. Hier sei vor allem auf die eine ganze Generation von Wissenschaftshistorikerinnen und -historikern prägende Rolle der von Hans-Jörg Rheinberger geleiteten Abteilung Experimentalsysteme und Räume des Wissens am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte hingewiesen, die neben Arbeiten zur materiellen Kultur von Lehr- und Forschungseinrichtungen und zu Forschungsprogrammen der Physiologie auch die aktuellen Bildwissenschaften beeinflusst.29 In den Hintergrund getreten sind, sicher auch aufgrund der zunehmend kritischen Sicht auf seine Rolle in der NS-Zeit, die Konzepte der Medizin Karl Eduard Rothschuhs, der ein eigenes Schema von Wendepunkten, Brüchen und Kontinuitäten entwickelte, und der ohne Referenz zu Ludwik Flecks Konzept von Denkstil und Denkkollektiv unter anderem den Begriff von der Ideenansteckung prägte.30 Rothschuh wurde im Call for Papers zur Jubiläumstagung vor allem aus Respekt vor seiner Rolle bei der Modernisierung der Wissenschaftsgeschichte hervorgehoben. Die frühen Arbeiten des Münsteraner Physiologen zur Naturphilosophie Schellings erregen heute Skepsis, weil sie eine philosophische Strömung der Vergangenheit in charismatischer Manier für ideologische Zwecke instrumentalisieren. 30 Jahre später war es Rothschuh, der als Ordinarius für Medizingeschichte die von Eduard Seidler vorbereitete Sezession von den alten, teilweise tiefbraunen Strukturen der prägenden Fachgesellschaft unterstütze, und mit der Gründung der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte auch die spätere Neuorientierung der Deutschen Gesellschaft für die Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik anstieß. Die exakte Definition zentraler Begriffe ist in vielen Bereichen der Naturwissenschaften die Voraussetzung für eine alltägliche Kommunikation über Publikationen, auf Kongressen und im Labor. Die Ausarbeitung von Nuancen eines Begriffs, eine abweichende Verwendung, Umwidmung oder die Aufgabe seines Gebrauchs kann die Distinktion einzelner Schulen und Forschungsfelder identitär bestimmen. Wie einzelne Begriffe entstehen, welche Zeichen und Nachweismethoden ihre Herausbildung ermöglichen und welche gesellschaftlichen, ökonomischen und intellektuellen Prozesse ihren Bedeutungswandel begleiten, diese Fragen werden auch in Zukunft gestellt. Skepsis erregt dagegen die vereinzelt von der Begriffsgeschichte der 1960er Jahre postulierte apriorische Fassung von Grundbegriffen, insbesondere wo sie über die kategorialen Begriffe Kants hinausgeht.31 Überzeitliche Kontinuitäten passen nicht zu naturwissenschaftlichen Begriffen. Frei nach Friedrich Hund besteht die Geschichte der Physik darin, etablierte Begriffe schonend gerade so viel abzuändern, dass neue Modelle integriert werden können. Die Quantenmechanik lasse sich, je nach Blickwinkel, als Abänderung der klassischen Partikelmechanik bezeichnen, die getroffen wurde, um Wellenmodelle möglich zu machen – oder als Abänderung der Wellen- und Feldtheorie, um korpuskuläre Elemente zuzulassen.32 Klaus Hentschel adaptierte für seinen Beitrag ein Schema Hunds, um die Entwicklung der Forschungsstränge auf dem Weg hin zum Modell der Lichtquanten zu visualisieren. Sein Schaubild erinnert gleichermaßen an einen um ,missing links‘ herum konstruierten Stammbaum in einem paläontologischen Museum und an die Mitte der 1950er Jahre so populären synchronoptischen Weltgeschichten. In seinem Beitrag stellt Klaus Hentschel eine von ihm selbst entwickelte Methode zur Beschreibung der Entstehung von Konzepten in der Physik vor, die er als „schichtweise semantische Akkretion“ bezeichnet. Die Geschichte sieht er als ein Gewebe von Strängen. Forschungsstränge und semantische Schichten würden durch Brechungen und Umbiegungen mitunter zur Unkenntlichkeit verändert und in „nichtlinearen Akkretionsprozessen“ um weitere Schichten angereichert. Die Arbeit „an und mit Begriffen, Konzepten und mentalen Modellen“ erzeuge immer neue Bedeutungen. Orthodoxe Anhänger der klassischen Lehre von den Grundbegriffen wären wohl eher davon ausgegangen, im Begriff ,Licht‘ sei bereits das endgültige und wahre Wesen seiner Ausbreitung enthalten. Zur Erklärung der Herausbildung eines physikalischen Modells scheint Hentschels Dekonstruktion dagegen optimal geeignet zu sein. Bernd Kulawiks Beitrag stellt ein Editionsprojekt des 16. Jahrhunderts vor. Vitruvs zehn Bücher zur Architektur, das einzige überlieferte Lehrbuch der römischen Architektur, sollte mit einer umfassenden Bestandsaufnahme noch erhaltener antiker Bauwerke versehen als ein möglichst originalgetreuer Katechismus des Bauens neu entstehen. Zu den Aufgaben der damit betrauten Gelehrten gehörte die Transkription von Inschriften, das Vermessen von Bauten, die „Erläuterung schwieriger Stellen“, die Übersetzung griechischer und lateinischer Begriffe und die Rekonstruktion von Abbildungen. Bernd Kulawik verweist auf die methodische Stringenz des Projekts und erläutert das in der Tat große Potenzial einer möglichst vollständigen Dokumentation der 470 Jahre alten Vitruv-Rekonstruktionen durch die Auswertung neuer Funde in italienischen, vatikanischen, britischen und deutschen Bibliotheken und Archiven. Nicht nur aus kunst- und architekturgeschichtlicher Perspektive wäre eine interdisziplinäre Erforschung der Bestände zu begrüßen. Sie würden auch einen maßgeblichen Beitrag zur Geschichte des wissenschaftlichen Blicks auf historische Konzepte liefern. Die historische Erforschung zahlreicher Disziplinen, sei es die Astronomie, die Medizin oder die Mathematik, in denen das 16. Jahrhundert als eine Periode der Überprüfung antiker Kenntnisse in den Schriften und am Objekt gilt, könnten methodisch davon profitieren. Aus philosophischer Perspektive bereichert der Beitrag von Christine Blättler diese Ausgabe. Gleich zu Beginn weist sie auf die notwendige Unterscheidung zwischen Wort, Ding und Begriff hin. Als eine Ursache für den Niedergang der Begriffsgeschichte identifiziert sie die Gleichsetzung von Begriff und Konstrukt. Die Ausweitung der kategorialen Begriffe Kants auf gesellschaftliche Grundbegriffe könnte dazu maßgeblich beigetragen haben. Als Beispiel für die naturwissenschaftliche Inspiration der Philosophie dient Christine Blättler das Werk Friedrich Nietzsches. Sie erläutert Nietzsches physiologisches Modell der Begriffsbildung, das wie eine Kette sensorischer und motorischer Hirnfunktionen funktioniert, und sie schildert die Anleihen aus der zeitgenössischen Chemie, die Nietzsche dazu nutzte, Kants Modell des erkenntnisleitenden Gegensatzpaars von Ursache und Wirkung durch die Auffassung der Erkenntnis als einer prozesshaften Entwicklung zu ersetzen. Foucaults Hinweis, die Medizin stehe der Geschichte näher als der Philosophie (er gilt nur für die vergangenen 200 Jahre), ist in der Tat parallel zu Nietzsches Einwurf zu sehen, semiotisch geprägte Begriffe wie Strafe seien nicht durch Definitionen zu erläutern, sondern lediglich durch die Schilderung ihrer Geschichte. Für Egon Fridell beginnt die Neuzeit im Jahr 1348 mit der Pest, die er als Moment der „Konzeption des neuen Menschen“ beschreibt.33 Das „Recht auf Periodisierung“ rechtfertigte der Wiener Publizist unter anderem mit der „Unwissenschaftlichkeit historischer Grundbegriffe“.34 Justus Nipperdey widmet sich in seinem Beitrag einer in den späten 1940er Jahren entstandenen Epoche, die als ,early modern‘, als Frühe Neuzeit bezeichnet wird. Ganz im Sinn einer historischen Begriffsgeschichte verfolgt er die Verwendung in der englischen und deutschen Literatur bis zu ihrem Erstgebrauch, die bis in die bezeichnete Epoche zurückreicht, jedoch ohne die systematische Verwendung zu finden, die nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in der Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte eingesetzt habe. Erst für die 1970er Jahre macht Justus Nipperdey die Umwandlung der Frühen Neuzeit „zum Schlagwort einer anthropologisch inspirierten Kulturgeschichte“ aus. Sein Beitrag schildert ordnende, kategorisierende und emphatische Motive für den Gebrauch der Epochenbezeichnung. Sebastian Gießmanns Beitrag „Der Durkheim Test“ bildet den Auftakt zu dem folgenden Heft der Berichte zur Wissenschaftsgeschichte. Im Folgenden werden alle Beiträge berücksichtigt, zu denen bis Redaktionsschluss bereits Gutachten vorlagen. Gießmanns Titel spielt auf einen Vorschlag Susan Leigh Stars an, den legendären Turing-Test artifizieller Intelligenz durch einen Durkheim-Test zu ersetzen. Bei dem von Alan Turing vorgeschlagenen Qualitätstest kommuniziert ein Fragesteller schriftlich in einer Blindsituation sowohl mit einem Menschen als auch mit der zu prüfenden Maschine. Die Maschine besteht Turings Test, wenn der Fragesteller sie aufgrund ihrer Antworten nicht von einem Menschen unterscheiden kann. Susan Leigh Star hingegen schlägt vor, artifizielle Intelligenz nicht im Vergleich zu einem Menschen zu messen, sondern an Gemeinschaften. Definiert würde die Qualität artifizieller Intelligenz demnach durch Anpassungsfähigkeit, die Berücksichtigung abweichender Meinungen und die Gewichtung relevanter und irrelevanter Kommunikationsbeiträge. Ihren auf Gesellschaften zugeschnittenen Bewertungsmaßstab nannte Susan Leigh Star Durkheim-Test -- in Anerkennung von Émil Durkheims These, Soziales könne nur durch Soziales erklärt werden. In Sebastian Gießmanns Artikel wird der Durkheim Test zu einem Gleichnis für die Ansprüche, die sich auch an Susan Leigh Stars Konzept der ,boundary objects‘ stellen. Gießmann schildert, wie sich Grenzobjekte in eine ,Ökologie von Praktiken‘ einbetten und wie der Begriff gleichermaßen vermittlungs- und medientheoretisch gefasst wurde. In Marianne Klemuns Beitrag geht es um die Entwicklung der Begriffe Geologie und Geognosie. Während die Geognosie nach der Definition des Heidelberger Mineralogen Karl Caesar von Leonhard lediglich die Beschreibung der Erdkruste und ihrer Erscheinungsformen (der Gebirgsformationen, Felsen und der Lagerung des Gesteins) beinhaltete, versuchte sich die Geologie an der „wissenschaftliche[n] Darlegung von der Entstehung unseres Erdkörpers und von den Umwandelungen die er erfahren“. Ernüchtert führte Leonhard hinzu: „Zahllose neue Thatsachen haben das Unzulängliche der früher am meisten verbreiteten Ansichten dargethan.“35 Leonhards Skepsis beruhte auf Erfahrung. Noch in naturphilosophischen Ansätzen geschult, hatte er sich bei der Theorie der Entstehung von Basalt zunächst auf die Seite der Neptunisten gestellt, die von einem Ursprung aus dem Meer überzeugt waren, um dann zu den Plutonisten zu wechseln, die nachwiesen, dass Basalt vulkanischen Ursprungs war. Beschreibung, nicht Spekulation sollte für Leonhard fortan den Kern seiner Disziplin ausmachen. Marianne Klemun verfolgt die Vorgeschichte der Begriffsdefinitionen, aber auch der jeweiligen Ziele und Arbeitsweisen bis hin zu nationalen Besonderheiten, zu denen auch das Klischee gehört, die angelsächsische Geologie habe sich aus den Erlebnisberichten reisender Gentlemen, die deutsche aus dem Montanwesen entwickelt. Der Ansatz, eindeutige und feststehende Begriffe zu methodischen Werkzeugen der Mathematik zu erheben, wurde von Emmy Noether (1882–1935) und ihrem wissenschaftlichen Umfeld geprägt. Mechthild Koreuber zeichnet die Entwicklung, Etablierung und Anwendung der Methode nach, die sich mit den drei Bezeichnungen ,Moderne Algebra‘, ,Begriffliche Mathematik‘ und -- in dem hier vorliegenden Beitrag einem Denkkollektiv zugeordnet -- ,Noether Schule‘ verbindet. Mechthild Koreuber befasst sich an zentraler Stelle ihres Artikels, der den Schlussakkord der Tagungsbeiträge liefert, mit einem Zitat aus Ernst Cassirers vorsichtiger Annäherung an das Verhältnis von Begriffen aus dem Repertoire von Wissenschaft, Religion und Mythologie in Bezug auf ihre tatsächliche Wirksamkeit unter wechselhaften gesellschaftlichen Bedingungen. Das soll das Stichwort für ein Schlusswort dieser Einleitung liefern. Cassirers (von Mechthild Koreuber zitiertes) Postulat, ein „vollständiges System der wissenschaftlichen Definitionen“ könne einen „vollständigen Ausdruck der substanziellen Kräfte“ darstellen, die „die Wirklichkeit beherrschen“, enthält zwei unangemessene Größenideen und eine realistische Einschätzung, die so bescheiden ist, dass sie die beiden ersten nahezu wiedergutmacht. Die erste Größenidee ist die Hybris, ein System naturwissenschaftlicher Definitionen könne jemals vollständig sein. Die zweite Anmaßung besteht in der Annahme, eine „Wirklichkeit“ könne durch die auf sie wirkenden Kräfte hinreichend beschrieben werden, und die bescheidene Einschränkung besteht in der Einlassung, wissenschaftliche Definitionen könnten diese lediglich „abbilden“. Es wurde zu Cassirers Programm, diesen Prozess der ,Abbildung‘ zu verfolgen. Er identifizierte bei der Erstellung wissenschaftlicher Definitionen ähnliche Prozesse, wie jene, die der gesellschaftlichen Akzeptanz von Mythen vorausgehen.36 Und er verfolgte zur Analyse beider Vorgänge dieselben methodischen Ansätze. Sprache beschreibt er als ein Vehikel für die „Rekognition im Begriff“,37 die bereits in ihren Grundstufen die maßgeblichen Leistungen des Erkennens und Unterscheidens ermögliche. Cassirers aus einem phänomenologischen Ansatz der 1920er Jahre gewonnene Erkenntnis verweist die wissenschaftshistorische Annäherung an die Begriffsgeschichte gleichermaßen auf den ,practical turn‘ und auf die Sozialwissenschaften. Das Potenzial liegt in der Verbindung beider Herangehensweisen.

Referência(s)