Artigo Revisado por pares

Schlussel? Zur historisch-kritischen Celan-Ausgabe

1999; Johns Hopkins University Press; Volume: 114; Issue: 3 Linguagem: Alemão

10.1353/mln.1999.0042

ISSN

1080-6598

Autores

Ulrich Plass,

Tópico(s)

German Literature and Culture Studies

Resumo

Schlüssel? Zur historisch-kritischen Celan-Ausgabe * Ulrich Plass Innerhalb der arbeitsteilig angelegten Geisteswissenschaften versteht sich die Editionsphilologie als empirische Grundlagenforschung für die Literaturwissenschaft, als Voraussetzung der Interpretation. Dieses Selbstverständnis soll im folgenden in Frage gestellt werden, denn Interpretation setzt ja schon bei der scheinbar rein empirischen Materialauffindung ein, insofern der Suchende eine ungefähre Vorstellung davon haben muß, was er zu finden wünscht. 1 Anders gesagt: der Editor von Lyrik ist sich von vornherein darüber im klaren, daß der Gegenstand seiner Arbeit ein Gedicht ist. Das Verständnis des Einzelnen, des Gedichts, ergibt sich aus dem Ganzen, der Gattung, der Tradition (und umgekehrt). Dies ist die Rohform des notorischen hermeneutischen Zirkels: Philologie wäre demnach eine Form der Interpretation, der Auslegung, des Verstehens, der Hermeneutik. Damit gilt auch für die Editoren, was Peter Szondi vor 30 Jahren den deutschen Literaturinterpreten vorhielt: daß ihr Pochen auf Wissenschaftlichkeit mit einer Vernachlässigung herme-neutischer (Selbst-)Reflexion einhergeht: “In der Hermeneutik fragt die Wissenschaft nicht nach ihrem Gegenstand, sondern nach sich selber, danach, wie sie zur Erkenntnis ihres Gegenstands gelangt.” 2 Die Arbeitsteilung von Textkonstitution und Textinterpretation wird unsicher, wo der zu erforschende Gegenstand den Wissenschaftler [End Page 594] geradezu zur Selbstbefragung nötigt. Doch ist solche Reflexion der eigenen epistemologischen Prämissen ein schwieriges, der schieren akademischen Produktion häufig hinderliches Unterfangen, das auf Abwehr stoßen muß. So scheint es nicht verwunderlich, immer noch der nachlässigen Einschätzung zu begegnen, Paul Celans Dichtung, insbesondere die spätere, sei hermetisch. Als Belege dafür gelten nicht nur die Gedichte selbst, sondern nicht selten auch der Mythos um den Dichter; dieser habe bewußt keine Fingerzeige zum Verständnis seiner Arbeiten gegeben, auch habe er seine Texte absichtsvoll gegen empirische Realität zu versiegeln gesucht. Mitunter scheint die Verwendung des Begriffs der Hermetik kaum auf eine Beschäftigung mit der zugrundeliegenden alchimistischen Tradition zurückzugehen, als eher auf eine schwammige Auffassung der Dich-tung als esoterischer. 3 Hermetisches aber will, die Nähe zum Boten Hermes suggeriert dies, verstanden, d.h. hermeneutisch entschlüsselt werden. Die Cha-rakterisierung von Celans Gedichten als hermetischen hat ihr Gutes zumindest insofern, als sie die philologische Aufbereitung des nach-gelassenen Werkes nährt, wenngleich auch aus dem irrtümlichen Glauben, in den noch unveröffentlichten Aufzeichnungen des Dichters die Schlüssel zum Verstehen des hermetischen Werks zu finden. 4 Hermetik, so scheint es, versucht dem hermeneutischen Zirkel es-chatologisch zu entgehen: die angestrebte Entschlüsselung eines herme-tischen Gebildes muß seiner erlösenden Destruktion gleichkommen. Die Glasröhre des Hermes Trismegistos ist nur solange hermetisch, wie sie vollständig versiegelt bleibt. Gleiches gilt für die Dichtung. Dem angestrebten destruktiv-erlösenden Moment, das mit der Entschlüsse-lung einhergeht, entspricht in der Celan-Forschung eine eigentümliche Licht-und Dunkelmetaphorik, indem von dunklen Stellen und vom Licht werfen gesprochen wird. Hugo Friedrichs vor mehr als 40 Jahren getroffene Feststellung, “Dunkelheit ist zum durchgängigen ästhetisch-en Prinzip geworden,” 5 hat sich anscheinend unauslöschlich ins aka-demische Halbbewußte eingeprägt. So schreibt beispielsweise George Steiner: “If we were given the necessary referential ‘interlinear’, the biographical matrix, the code-book to the personal and literary-his-torical allusions, we would be put—often quite straightforwardly—in possession of essential meanings. [...] The exegeses given by those privy to the biographical facts [...] are almost disconcerting in their explanatory power. So much falls into (at least preliminary) place: So much darkness is dispelled.” 6 Obgleich Steiner einschränkend bemerkt, es gehe ihm mit seiner Forderung nach einem “code-book” nicht um die [End Page 595] Entschlüsselung von Celans Dichtkunst an sich, sondern lediglich um die Erhellung “zufälliger Dunkelheiten” (“contingent enigmas”), bleibt doch das schiere Verlangen nach einem solchen “code-book,” einem Schlüssel also, irritierend genug. Wobei es nämlich in einem solchen Verfahren geht, ist das Auflesen von Intertextualität nach identi-fizierenden Prinzipien: die philologische Logik der Parallelstellen und Varianten, der Wortkonkordanzen und Schlüsselworte; ihr liegt der Glaube an eine feste, lexikalisch definierte Bedeutung der Wörter zugrunde. Wie aber Celans Texte das Vertrauen auf eine “semonto-logische Gestalt” 7 der Wörter unterminieren, soll als implizite...

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