Artigo Acesso aberto Revisado por pares

La montagne suisse en politiqueRudaz, Gilles und Bernard, DebarbieuxLausanne, Presses Polytechniques et Universitaires (2013), 121 p., ISBN 978‐2‐889‐15043‐4

2014; Wiley; Volume: 20; Issue: 3 Linguagem: Alemão

10.1111/spsr.12110

ISSN

1662-6370

Autores

Michael Hermann,

Tópico(s)

French Urban and Social Studies

Resumo

Die Berge im Allgemeinen und die Alpen im Speziellen spielen eine zentrale Rolle im Selbstbild der Schweiz. Sie sind Inhalt einer Vielzahl von Monographien, die meist physisch-geographische, wirtschaftliche oder volkskundliche Aspekte in den Vordergrund stellen. Das handliche Buch «La montagne suisse en politique» nimmt demgegenüber eine konsequent politikwissenschaftliche Perspektive ein. In ihrem enzyklopädisch gehaltenen Werk beleuchten die Autoren die Inhalte und Formen der Berggebietspolitik ebenso wie die damit verbundenen politischen Konfliktlinien und decken sorgfältig und systematisch die drei Dimensionen von Politik ab. Dass die Bergwelt für die politische Identitätsbildung der Schweiz eine herausgehobene Stellung besitzt, gehört zum intuitiven Erfahrungsschatz aller an Politik und Geschichte dieses Landes Interessierten. In einem kurzen Abriss gehen die Autoren dem Gebirge und dem «Bergler» als «imaginaire national de la Suisse» auf den Grund (S. 11-26). Für die Ausbildung moderner Nationalstaaten im 19. Jahrhundert hätten emblematische Landschaften überall in Europa eine Rolle gespielt (S. 12). Dennoch sei die Rolle der Berge in der Schweiz eine besondere. Verantwortlich dafür sind im Wesentlichen vier Faktoren. Erstens, die Verankerung des Gründungsmythos in den Urkantonen und im Rütli. Zweitens, das Anliegen, die katholisch-konservativen Bergregionen nach Ende des Sonderbunds an den neuen Bundesstaat zu binden. Drittens, das aufkommende touristische Interesse an der Bergwelt und schliesslich, viertens, die mit der Bergwelt verknüpfte geistige Landesverteidigung. Während die emblematische Rolle der Bergwelt in Nordamerika oder Neuseeland eine menschenferne «Wilderness» sei, gehöre die starke Präsenz des «Montagnards» zur Besonderheit des schweizerischen Bergmythos’ (S. 16). Trotz dieser Ausnahmestellung der Bergwelt und ihrer Bewohner gehörte die Schweiz nicht zur Avantgarde der Berggebietspolitik. Die Pionierrolle kam Frankreich zu, das 1860 das erste Gesetz zur Wiederaufforstung von Berggebieten erliess (S. 23) als Reaktion auf eine grassierende Entwaldung und auf die Zunahme von Hochwasserereignissen im Flachland. In der Schweiz wurde das erste Waldgesetz zum Schutz der Forstbestände 1876 erlassen. Die Waldgesetzgebung war eine Politik, die darauf abzielte die Berggebiete als Schutz- und Regulationszonen zu bewahren. Sie lief damit zumindest teilweise den gewerblichen Interessen der Berggebietsbewohner entgegen. Erst in der Zwischenkriegszeit rückten deren Lebensbedingungen und ökonomische Interessen in den Mittelpunkt der Berggebietspolitik. Die negative demographische Entwicklung und die symbolische Aufladung der Berggebiete im Zuge der geistigen Landesverteidigung erhöhten die Bereitschaft für eine eigentliche Förderungspolitik, die sich über mehrere Etappen entwickelte und im Bundesgesetz über Investitionshilfe für Berggebiete (IHG) von 1974 gipfelte (S. 35). Rudaz und Debarbieux zeigen, dass die Entwicklung der Berggebietspolitik notgedrungen zu räumlichen Abgrenzungsproblemen führte. In den 1930er-Jahren wurden Berggebiete zunächst alleine anhand ihrer Lage in Meter über Meer definiert. Erst mit der Zeit wurden Faktoren wie Hangneigung und Zugänglichkeit in die Definition miteinbezogen (S. 32). Im Investitionshilfegesetz für Berggebiete von 1974 wurden die Hochgebirgsregionen Engadin und Davos nicht zum Berggebiet gezählt. Als strukturstarke Regionen galten sie nicht als unterstützungsbedürftig. Im Wallis fassten die IHG-Regionen Hauptorte wie Sion und Visp im Rhonetal mit den hochalpinen Seitentälern zusammen. Dies habe, so die Autoren, in den Walliser Bergregionen zu anhaltenden Akzeptanzproblemen des IHG geführt. Warum sollten die urbanen Zonen in der Ebene von IHG-Investitionen profitieren (S. 38)? In den 1990er-Jahren setzte eine fundamentale Neuausrichtung der Berggebietspolitik ein, die von einer «logique de guichet» zur «logique de projet» führte (S. 41). Das Giesskannenprinzip wurde schrittweise durch eine marktwirtschaftlich geprägte Projektförderung abgelöst. Die substantialistische Vorstellung abgeschlossener Berggebiete erodierte. Die Autoren zeigen, dass der Wahrnehmungswandel nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Berggebiets-Lobby erfasste. Die Schweizerische Arbeitsgruppe für Berggebiete (SAB) verlieh 2012 den «Prix Montagne» an einen Landwirtschaftsbetrieb mit 600 schottischen Hochlandrindern. Diese Rinder würden einen Beitrag zur Bekämpfung der Vergandung von Tessiner Berg- und Alpweiden leisten. Ausgezeichnet wurde eine Firma, die mithilfe einer allochthonen, nicht ansässigen Tierart autochthone Kulturlandschaften schützt (S. 47). Eine durchaus paradoxe Konstellation, wie die Autoren anmerken. Mit dem Ende der unmittelbar ans Berggebiet gebundenen Förderungslogik des IHG fiel schliesslich auch der Bedarf einer genauen Gebietsabgrenzung weg. In der «Neuen Regionalpolitik» von 2008 hat sich das Berggebiet im «ländlichen Raum» aufgelöst. Das Berggebiet taucht seither nur noch sporadisch, wie etwa in einer 2012 gegen den Willen des Bundesrats überwiesenen Motion von Theo Maissen als eigenständiges Bezugssystem auf (S. 83). Gefordert wurde darin die Erarbeitung einer «Strategie des Bundes für die Berggebiete und ländlichen Räume». Der langjährige SAB-Präsident Maissen stellte in seiner Motion naturgemäss die Berggebiete ins Zentrum. Er kommt jedoch nicht um den Einbezug des gesamten ländlichen Raums herum. Es ist ein Spagat, den auch die Autoren des Buchs immer wieder bewältigen müssen. Noch stärker als im Feld der Policies verwischen Berggebiete und ländlicher Raum im Bereich der Politics. Das Kapitel «Convergences, Controverses et Lignes de Clivage» (S. 63-84) macht deutlich, dass in der Arena politischer Kontroversen die Berggebiete in der Regel nur mitgemeint sind, wenn sich Stadt und Land gegenüberstehen. In der jüngeren Geschichte gab es mit der Alpen-Initiative nur eine Volksabstimmung mit direktem Bezug zum Berggebiet. Diese produzierte keine Berglersolidarität, sondern teilte das Berggebiet in eine östliche Gotthard-Splügen-Achse, die dem «Schutz des Alpengebiets vor dem Transitverkehr» klar zustimmte, und den westlichen Alpenraum, der sich dagegen stellte. Umso bemerkenswerter ist das Zustimmungsmuster zur Zweitwohnungs-Initiative von 2012. In einer Klarheit wie nie zuvor bildeten sich bei dieser Abstimmung die ehemaligen IHG-Regionen (zumindest die alpinen) auf der Abstimmungslandkarte ab. Anders als eine knappe gesamtschweizerische Mehrheit wollten sie von einer Begrenzung des Zweitwohnungsbaus nichts wissen. Wie schon das Waldgesetz von 1876 legte die Zweitwohnungsinitiative ein Spannungsfeld zwischen Alpenschutzanliegen der Unterländer und lokalen gewerblichen Interessen frei. Als letztes Themenfeld behandeln die Autoren das Berggebiet im transnationalen Kontext. Im Kapitel «Montagnes sans frontières» (S. 85-110) wird insbesondere die Blockadehaltung der Schweiz gegen die Alpenkonvention beleuchtet und es wird der Bogen zurück zum Ausgangskapitel geschlagen, wo die zentrale Rolle des Berggebiets als emblematische Landschaften der nationalen Identität diskutiert wird. Durch ihre Rolle in der Nationenbildung seien die Schweizer Berglandschaften zu Vehikel der nationalen Abgrenzung geworden. Verdeckt werde damit, dass Alpen und Jura – die prägenden Gebirgszüge der Schweiz – sich gerade durch ihren grenzüberschreitenden Charakter auszeichnen. Die Leistung dieses kleinen Buches ist zweifellos eine Reihe politikwissenschaftlicher Themenfelder um einen Gegenstand zu bündeln, der im politikwissenschaftlichen Diskurs zwar präsent ist, jedoch nur in sektoraler, themenspezifischer Perspektive. Reizvoll ist die Behandlung eines in der Geographie angesiedelten Forschungsgegenstands aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive. Dass auf eine thematisch weitergefasste Abhandlung über die Schweizer Bergregionen verzichtet wurde, ist konsequent. Dennoch ist bei Querschnittsbetrachtung nicht zu vermeiden, dass die innere Kohärenz ein gewisses Mass nicht übersteigen kann und folglich die Kapitel des Buchs eher äusserlich als innerlich verklammert sind. Auch wenn man das Buch für das nimmt, was es sein will, bleibt ein grösseres Manko. Es ist der ausgesprochen unspezifische Umgang, den die Autoren mit dem Begriff «Schweizer Gebirge» pflegen. Nicht das «Gebirge» spielt eine zentrale Rolle in der Schweizer Identitätsbildung, sondern die «Alpen». Der Jurabogen ist ein wichtiger Gebirgszug der Schweiz. Dennoch haftet den Juraregionen eine Aura von Fremdheit an. Als einstiger Brennpunkt der anarchistischen Internationalen und als Keimzelle links-emanzipatorischer Bewegungen passt diese Gebirgsregion nicht ins nationalkonservative, alpine Selbstbild der Schweiz. Gebirge ist auch in politischer Hinsicht nicht gleich Gebirge. Eine weitere Differenzierung etwa nach Sprachregionen oder ein Vergleich zwischen den sehr unterschiedlichen Politiktraditionen des Wallis und Graubündens wären interessant. Sieht man von der mangelnden Differenzierung des Begriffs des Gebirges ab, handelt es sich bei «La montagne suisse en politique» aber um eine lesenswerte und runde Studie.

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