Editorial: Auf YouTube für Chemie begeistern
2013; Wiley; Volume: 125; Issue: 34 Linguagem: Alemão
10.1002/ange.201304861
ISSN1521-3757
AutoresBrady Haran, Martyn Poliakoff,
Tópico(s)Wikis in Education and Collaboration
ResumoWie gibt man die eigene Begeisterung für die Chemie am besten an junge Leute weiter, an die nächste Generation von Chemikern und Ingenieuren? Vor dieser Frage stehen viele Chemiker, die auf Jahre beruflichen Erfolgs zurückblicken können, aber für die Öffentlichkeitsarbeit immer ein etwas nebulöser Begriff war. Ein guter Ausgangspunkt ist, sich zu fragen, warum man selbst Chemiker geworden ist.1 1 Als wir Wissenschaftler an der University of Nottingham das fragten, hieß es z. B.: “Ich war in Mathe nicht gut genug, um Physiker zu werden”, “Ein Mädchen, das ich mochte, entschied sich für Chemie”, “Ich hatte einen super Chemielehrer”. Tatsächlich wurden Lehrer häufig als Grund genannt. Doch Lehrer kämpfen oft damit, inspirierend zu sein. Daraus ergibt sich die Frage, wie kann ein enthusiastischer Chemiker Lehrern helfen, die nächste Generation von Chemikern zu inspirieren? Wir möchten mit diesem Editorial helfen, diese Frage zu beantworten. Dazu beschreiben wir, wie eine Gruppe von Chemikern in Nottingham zufällig einen Weg der Kommunikation gefunden hat, und zwar indem sie gemeinsam mit dem Filmemacher Brady Haran (Coautor dieses Editorials) Chemievideos für YouTube hergestellt hat. Die Gruppe besteht aus Neil Barnes, Jim Gamble, Debbie Kays, Andrei Khlobystov, Pete Licence, Steve Liddle, John Moses, Rob Stockman, Samantha Tang, Darren Walsh und Martyn Poliakoff. Unser Projekt, “das Periodensystem der Videos” (PTOV), war auf mehreren Ebenen erfolgreich, und sein Erfolg übertraf erheblich unsere Erwartungen. Das PTOV begann mit der Idee, ein kurzes Video über jedes der 118 Elemente zu machen. Wir wussten nicht so recht, was man über die superschweren Elemente sagen sollte, von denen nur ein paar Atome je hergestellt worden waren, aber diese Sorgen wurden in der anfänglichen Aufregung über das Filmen ignoriert. In nur fünf Wochen ab Juni 2008 hatten wir 120 Filme gedreht (einen für jedes Element, plus eine Einleitung und einen “Trailer”). Die Videos sind auf YouTube gespeichert und können über eine Website oder eine YouTube-Seite aufgerufen werden. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Videos hergestellt wurden, erwarteten wir keine große Wirkung; vielleicht ein bisschen Interesse bei jungen Leuten und hartgesottenen YouTube-Abhängigen? Zu unserer Überraschung weckte das Projekt die Neugierde der Öffentlichkeit und wurde in den Medien reichlich diskutiert. Der Enthusiasmus unserer Zuschauer motivierte uns weiterzumachen, und inzwischen machen wir seit fast fünf Jahren Chemievideos. Mitte Mai 2013 gab es 478 Videos, mehr als 41 Millionen Aufrufe und mehr als 250 000 YouTube-Abonnenten, die auf jedes neu hochgeladene Video hingewiesen werden. Die Videos haben selbstverständlich nicht mehr nur die Elemente als Thema; inzwischen gehören auch Moleküle dazu, sowie Reaktionen, Nachrichten mit Chemiebezug (z. B. der rote Schlick in Ungarn und die Fukushima-Katastrophe in Japan) und Autotouren in Übersee (z. B. in Brasilien, Äthiopien, Indien und Australien), bei denen Erfahrungen unseres Teams genutzt werden können. Auch wenn das Projekt heute weit über die Elemente hinausreicht, werden wir es weiterhin PTOV nennen, weil sich dieser Name inzwischen zu einer Marke entwickelt hat. Viele Universitäten beginnen, ihre Lehrveranstaltungen auch online zu präsentieren (z.B. durch massive open on-line courses, MOOCs), worauf eine riesige Zahl an Studenten auf der ganzen Welt zugreift. PTOV ist kein MOOC. Es ist deutlich anders. Es bietet keine Vorlesungen und bricht zudem mit vielen Konventionen des Unterrichtsfilms. Es gibt keine Skripten, keine vordefinierten Unterrichtsziele und keine bestimmte Zielgruppe, und der Filmproduzent bestimmt, was gedreht wird. Jeder von uns Chemikern sieht die Videos zum ersten Mal, nachdem sie auf YouTube hochgeladen wurden. Das alles bedeutet, dass sich unsere Videos anders “anfühlen” als das meiste Unterrichtsmaterial von Universitäten, und die Zuschauer reagieren darauf sehr positiv. Bei YouTube gibt es sofort Rückmeldungen. Wenn wir mal einen Fehler machen, fällt er oft rascher auf als Fehler bei unseren klassischen Vorlesungen an der Universität. Wir erfahren schnell und brutal, welches Material wirklich interessiert. Die Ergebnisse sind unerwartet: Ein Video mit dem Titel “Can you drink heavy water?” wurde nur wenig öfter angeschaut als eines über die Explosionen von elementarem Fluor. Im Prinzip könnten wir die Rückmeldungen der Nutzer verwenden, um künftige Videos zu verbessern, aber eigentlich scheinen die meisten unserer Nutzer nahezu jedes Video mit Chemiebezug interessant zu finden! Wegen der großen Zahl an Nutzern können wir die meisten von ihnen nicht individuell identifizieren; doch wir wissen, dass sie in fast allen Ländern der Welt zu Hause sind. Unter den erwachsenen Nutzern sind viele, die keine professionellen Chemiker oder Erzieher sind; sie reichen vom europäischen Adel bis zu einfachen Arbeitern. Einer schrieb uns: “Ich hatte in der Schule nie Chemie, aber mir haben diese Videos enorm Spaß gemacht. Ich arbeite an einer amerikanischen Highschool als Hausmeister. Ich werde das naturwissenschaftliche Department auf Ihre Website hinweisen. Ich bin sicher, sie werden sie für ihren Unterricht nutzen.” Und es gibt auch jede Menge Kinder; z. B. aus Australien: “Ich heiße George. Ich bin acht Jahre alt und mag Chemie sehr” oder vom 13-jährigen Jakub aus der tschechischen Republik: “Selbst meinem zwei Jahre älteren Bruder gefällt Euer Video über Beton”. Unsere Stellung ähnelt der kleiner, hoch spezialisierter Internetfirmen, die derzeit überall entstehen. Mithilfe des Internets können wir neugierige Köpfe überall auf der Welt auf eine Art erreichen, die selbst vor wenigen Jahren noch ziemlich unvorstellbar gewesen wäre. Die wirkliche Überraschung für uns Chemiker war aber die Art der Interaktion mit unseren Zuschauern. Zuerst einmal erreichen wir sehr viele Menschen; manche unserer Videos wurden innerhalb weniger Tage von mehr als 200 000 Leuten aufgerufen. Das ist weit mehr als die Gesamtzahl aller Zuhörer, die irgendeiner von uns in all seinen üblichen Vorlesungen jemals haben könnte. Außerdem haben manche Zuschauer das Gefühl, wir würden sie persönlich ansprechen, und beginnen, uns als Freunde anzusehen. Manchmal stellen sie Fragen, die allgemein genug sind, dass sie eine Antwort in Form eines neuen Videos verdienen, z. B. die Frage, mit der wir dieses Editorial begonnen haben – warum wir Chemiker geworden sind. Doch einige Zuschauer wenden sich auch mit ganz spezifischen Problemen an uns. Diese können erschreckend, aber auch sehr einfach sein: “Nur schnell eine Frage: Mein Vater bestellte etwas 70 % HNO3 , 96 % H2SO4 und 36 % HCl; könnten Sie mir einen Rat geben, wie wir diese Säuren lagern sollen und uns(!) bei ihrer Verwendung vor Verletzungen schützen können?” Gelegentlich sind sie aber auch anspruchsvoller, wie diese Nachricht aus Serbien: “Wir haben eine zweite Veröffentlichung mit dem Titel ‘Mathematical modeling of the effect of temperature on the rate of a chemical reaction’ verfasst …︁ meine Lehrerin möchte diese Arbeit gerne in einer internationalen Zeitschrift veröffentlichen, und da sie Ihren YouTube-Kanal und Ihren Beruf kennt, riet sie mir, ich solle Sie um Hilfe bitten”. Diese Anfrage bringt uns zurück zum Thema Lehrer. Viele E-Mails und Briefe zeigten uns, dass Lehrer unsere Videos für ihren Unterricht nutzen; als Beispiel hier eine neuere E-Mail aus Großbritannien: “Wir sehen fast jede Stunde Videos von Ihnen, weil unser Lehrer von Ihnen besessen ist …︁” Aus den Rückmeldungen geht ganz klar hervor, dass Lehrer unseren enthusiastischen Ansatz schätzen, ebenso wie die Möglichkeit, Reaktionen zu zeigen, die an Schulen aus Sicherheitsgründen nicht durchgeführt werden können. Außerdem gehen wir in unseren Videos auch an normalerweise unerreichbare Orte; so zeigen wir das Gold in den Tresoren der Bank of England oder Plutoniumchemie im National Nuclear Laboratory. Manchmal sind Lehrer zu uns nach Nottingham gekommen, nur um uns zu danken und kleine Geschenke ihrer Schüler zu bringen. In einem nächsten Schritt kommt 2013 ein ganzes Periodensystem mit kommentierten Videos auf die TED-Website. Jedes Video wird abgestufte Fragen für Schüler enthalten. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass jeder Lehrer die Videos “durchblättern” und die Fragen modifizieren kann, damit sie besser zu seiner Klasse passen. War der Erfolg von PTOV nur Glück? Vielleicht nicht, denn Haran hat mit ganz anderen Wissenschaftlergruppen ebenfalls Filme gemacht und erfolgreich auf YouTube präsentiert, z. B. zu Physik, Mathematik und Astronomie. Die Lehren aus unserem Projekt sind wohl ziemlich allgemein. Erstens kann die Vermittlung von Wissenschaft für Chemiker eine lohnende Tätigkeit sein. Nicht für jeden selbstverständlich, aber wenn es Sie interessiert, dann lassen Sie sich nicht durch mangelnde frühere Erfahrung abschrecken. Keiner der Chemiker in unserem Team hatte vor dem Start von PTOV schon mal Videos gemacht, aber alle standen der Idee positiv gegenüber. Zweitens muss die Teilnahme an Öffentlichkeitsarbeit nicht sehr zeitintensiv sein. Jeder am Projekt beteiligte Akademiker hat weiterhin aktiv geforscht und in angesehenen Zeitschriften veröffentlicht. Den Erfolg verdanken wir der Zusammenarbeit mit einem professionellen Filmemacher, der das Medium kennt. Im Prinzip wirkt der Filmemacher als Vermittler, der den Chemikern hilft, ihre Begeisterung für die Chemie auszudrücken, ohne übermäßig technisch oder langweilig zu werden. Wir erleben aufregende Zeiten in der Entwicklung sowohl der Chemie als auch der Online-Netzwerke. Die Herausforderung ist, die Begeisterung für beide Gebiete zu verknüpfen und zu nutzen. Wie in anderen Bereichen chemischer Aktivitäten sollten wir nicht einfach das kopieren, was andere getan haben, sondern uns den raschen Aufstieg des nächsten Online-Netzwerks (wie Twitter oder Ähnliches) zunutze machen, um unsere gemeinsame Leidenschaft für die Chemie an neue Generationen weiterzugeben. Versuchen Sie einfach etwas. Machen Sie etwas Neues! Zum Schluss möchten wir auf eine Frage unserer Nutzer zurückkommen. Wir wurden gefragt: “Wenn Sie kein Chemiker geworden wären, was hätten Sie dann gerne gemacht?” Aus unserem Team kamen unter anderem die Antworten: ich wäre Rockstar geworden, ich hätte einen Musikladen aufgemacht oder ich hätte Fernsehwerbung produziert. Was hätten Sie getan? Könnte die Vermittlung von Wissenschaft ein Weg sein, Ihre verborgenen Ambitionen zu enthüllen?
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