Artigo Acesso aberto Revisado por pares

Wahlen und Wählerschaft in der SchweizFreitag, Markus and VatterAdrian (Hg.) Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung (2015), 478 S., ISBN 978‐3‐03810‐098‐0

2015; Wiley; Volume: 22; Issue: 1 Linguagem: Alemão

10.1111/spsr.12186

ISSN

1662-6370

Autores

Werner Seitz,

Tópico(s)

German legal, social, and political studies

Resumo

Es sind nun zwanzig Jahre her, dass das Projekt «Selects» (Swiss Electoral Studies) der Universitäten Bern, Genf und Zürich die Vox-Analysen zu den Nationalratswahlen abgelöst hat (Farago 1995). Dieser Forschungsverbund führte zu einer Professionalisierung der Schweizer Wahlforschung und liess sie alsbald den Anschluss an die internationale Wahlforschung finden. Die Professionalisierung hatte aber auch zur Folge, dass sich Forschungsarbeiten vermehrt mit partikulären und methodisch komplexen Sachverhalten beschäftigten und ihre Ergebnisse hauptsächlich in Fachzeitschriften publiziert wurden. Für das Verfassen von Monografien, die einen Überblick verschaffen und auch einem breiteren Publikum zugänglich sind, fehlt vielen Forschenden häufig die Zeit. So ist es erfreulich, dass das Institut für Politikwissenschaft (IPW) der Universität Bern eine Publikation vorlegt, welche wichtige Ergebnisse der Wahlforschung in allgemein verständlicher Form vorstellt. Herausgeber sind die beiden Co-Direktoren des IPW, Adrian Vatter und Markus Freitag. Die Publikation umfasst 13 Beiträge, an denen sämtliche Forschende des Berner IPW beteiligt waren sowie einige Forschende, die mit dem IPW verbunden sind. Eröffnet wird der Textband mit einem Aufsatz von Adrian Vatter über die institutionellen Rahmenbedingungen und Grundlagen der Nationalratswahlen. Nach einer Darstellung der gesetzlichen Bestimmungen untersucht Vatter die verschiedenen Effekte des Wahlsystems auf die Wahlerfolge und die Repräsentation der Parteien. Den grössten Einfluss auf die Disproportionalität zwischen Stimmen- und Mandatsanteilen haben die unterschiedlich grossen Wahlkreise (Kantone), die aufgrund der teilweise hohen Wahlhürde zuungunsten der kleinen Parteien wirken. Gewissermassen als Korrektiv wirken dagegen die Listenverbindungen. Matthias Fatke und Markus Freitag widmen sich in ihrem Beitrag den Nichtwählenden, welche schon in der «Selects»-Studie zu den Nationalratswahlen 1999 analysiert wurden (Bühlmann u.a. 2003). Wie diese bilden Fatke/Freitag auf der Basis der Gründe für die Nichtteilnahme eine Typologie der Nichtwählenden. Vier Typen entsprechen denjenigen von Bühlmann u.a: die politisch Desinteressierten, welche immer noch die grösste Gruppe darstellen (1999: 33% der Nichtwählenden / 2011: 25%), die Inkompetenten, die sozial Isolierten und die Politikverdrossenen. Anstelle der alternativ partizipierenden Nichtwählenden und der protestierenden Nichtwählenden eruieren Fatke/Freitag zwei neue Typen: die unkonventionell Partizipierenden und die abstimmenden Nichtwählenden. Die Autoren unterstreichen zurecht, dass die Nichtwählenden keine homogene Gruppe sind und dass eine niedrige Wahlbeteiligung nicht per se dramatisiert werden solle. Demokratietheoretisch seien nämlich die unkonventionell Partizipierenden und die abstimmenden Nichtwählenden nicht besorgniserregend, mit Abstrichen auch die Desinteressierten, die mit der Politik ja zufrieden seien. Diese drei Typen machen knapp die Hälfte der Nichtwählenden aus. Ein demokratiepolitisches Problem stellen dagegen die Nichtwählenden aus Politikverdruss, die sozial Isolierten und die Inkompetenten dar. Marc Bühlmann und Marlène Gerber zeigen die grossen Veränderungen der Parteienlandschaft der letzten vier Jahrzehnte auf. Anders als der monströse Titel vermuten lässt – er erstreckt sich über fünf Zeilen und spricht nur von «Sozialdemokraten und anderen grossen Parteien» –, findet sich in diesem Aufsatz eine Fülle von Informationen zu den fünf grossen Parteien, wobei jene Parteien im Zentrum stehen, die sich in den letzten Jahrzehnten am stärksten verändert haben. Es sind dies neben der SVP die SP, die sich von einer ursprünglichen Arbeiterpartei zu einer Partei der neuen Mittelschichten gewandelt hat, oder die CVP. Bei Letzterer stellen Bühlmann/Gerber fest, dass sie trotz ihrer programmatischen Änderung nicht über die katholische Wählerschaft hinaus punkten kann, wobei ihr aber diese zusehend den Rücken zukehrt. Ganz anders sieht es bei der SVP aus. Diese konnte sich im Zuge des Diskurses über die politische Öffnung der Schweiz ideologisch neu positionieren und ihre Wählerbasis massiv ausbauen. In den Tabellen dieses Aufsatzes fehlen leider die Angaben zu den Nationalratswahlen von 1983. Bühlmann/Gerber bemerken dazu: «die Vox-Wahlbefragung von 1983 ist verschollen» (S. 399). Nachdem sich schon im «Handbuch der Abstimmungsforschung» die Anmerkung findet, die Vox-Daten zu den Volksabstimmungen vor Juni 1981 seien «durch aktuelle Software nicht mehr lesbar» (Milic u.a. 2014: 137), erstaunt es schon etwas, dass so wichtige Umfragedaten einfach verloren gehen können. Maya Ackermann und Sara Kijewski untersuchen die Faktoren für die individuellen Wahlentscheide, und knüpfen damit an die Forschungsarbeit von Holzer/Linder (2003) an. Sie kommen zum Schluss, dass die Parteiidentifikation immer noch eine grosse Rolle spielt. Am stärksten wirkt sie bei den Wählenden von SP, FDP und CVP, weniger stark bei jenen der SVP und der Grünen. Die Kandidatenorientierung spielt vor allem bei der SVP eine Rolle, während die Einstellung zu Sachfragen bei linken und rechten Parteien eine gewisse Relevanz hat. Der Text von Ackermann/Kijewski zeichnet sich aus durch sprachliche und methodische Sorgfalt. Umso mehr stört die begriffliche Unschärfe, wenn FDP und CVP «traditionelle Mitteparteien» genannt werden. Drei Aufsätze widmen sich ausgewählten Parteien. Isabelle Stadelmann-Steffen und Karin Ingold untersuchen die GLP, welche 2011 zu den Siegern der Nationalratswahlen gehörte. Sie analysieren dabei die Wählenden und die Parteielite. Für Letztere dienen die Stellungnahmen der Parteien im Vernehmlassungsverfahren als Quelle. Bei der Charakterisierung der inhaltlichen Positionierung der GLP werden Sachverhalte bestätigt, die man bisher aus der Dokumentenanalyse kannte, es werden aber auch neue Erkenntnisse präsentiert. Die Autorinnen kommen zum Schluss, dass die GLP eine eigenständige Position im mehrdimensionalen politischen Raum einnehme und dass sie sich sowohl von den Linken und Grünen wie von den bürgerlichen Parteien abgrenzen könne. Die GLP fülle so «grundsätzlich» eine Nische. Thomas Milic und Adrian Vatter analysieren die Wählerschaft von CVP und BDP im Hinblick auf verschiedene Möglichkeiten einer Zusammenarbeit. Dabei erfährt man einiges über die BDP und die CVP. Zwischen BDP und CVP gibt es grosse sachpolitische Übereinstimmungen. Einen Unterschied gibt es dagegen bei den Motiven der Wählenden. Während die CVP eine Stammwählerschaft hat und im katholischen Milieu verankert ist, sind die Parteibindungen der BDP-Wählenden nicht besonders entwickelt. Bei der Wahl für die BDP waren vor allen die Attraktivität der Spitzenkandidaturen und das Image ausschlaggebend. Im Hinblick auf ein Zusammengehen der beiden Parteien verweisen die beiden Autoren darauf, dass eine solche nur von 45% der gemeinsamen Wählerschaft unterstützt würde. Es bestehe ein hohes Risiko, dass sich ein Teil der Wählenden beim Zusammengehen der beiden Parteien anderen Parteien wie der GLP zuwenden würde. Der Aufsatz von Anita Manatschal und Carolin Rapp untersucht die Wähler-Basis der SVP und knüpft dabei an eine Reihe von früheren Studien über die SVP an. Die Befunde treffen sich mit jenen von Kriesi u.a. (2005). Den grössten Einfluss auf den Aufstieg der SVP haben die dezidiert europakritische Haltung der SVP sowie ihre Verteidigung der traditionellen kulturellen Werte bzw. die Angst vor der Zerstörung der immateriellen Werte der Schweiz. Auf die Persönlichkeitspsychologie beziehen sich die Texte von Ackermann/Freitag und Heidelberger/Wirz. Diese versucht, das individuelle Wahlverhalten durch fünf Persönlichkeitsmerkmale zu erklären (die so genannten Big Five): Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, emotionale Stabilität, Extraversion und Verträglichkeit. Kathrin Ackermann und Markus Freitag eruieren in ihrem Beitrag folgende Zusammenhänge zwischen den Big Five-Persönlichkeitseigenschaften und den verschiedenen Parteibindungen: Bei verträglichen Menschen sind Parteibindungen wenig wahrscheinlich, und falls doch, dann am ehesten zur CVP. Offene und emotional stabile Personen sind den Grünen zugewandt. Gewissenhafte Menschen mit einem Bedürfnis nach Ordnung und Struktur fühlen sich von der SVP angezogen, sorgenvolle Menschen von der SP und der CVP. Die Relevanz dieser Erkenntnisse ist nicht auf Anhieb gegeben. Allenfalls wäre ein Vergleich mit den Ergebnissen von internationalen Studien, auf die verwiesen wird, einem besseren Verständnis förderlich gewesen. Anja Heidelberger und Rolf Wirz suchen in ihrem nicht immer leicht verständlichen Text nach Wirkungszusammenhängen zwischen genetischen Faktoren und der Wahlteilnahme. Mangels «genetisch informativer Daten» (S. 126) greifen sie auf die Daten über die Persönlichkeitsmerkmale zurück. Ein Zusammenhang von diesen mit der Wahlteilnahme kann jedoch nur indirekt, über Drittvariablen festgestellt werden. Dieser Aufsatz liess den Rezensenten einigermassen ratlos zurück. Claude Longchamp und Cloë Jans, beide vom GFS-Forschungsinstitut Bern, untersuchen die Wirkung von Geld und Kommunikation in Wahlkämpfen. In ihrem Text, der interessante Informationen zu Wahlkampagnen enthält, unterscheiden sie drei Typen von Kampagneneffekten bzw. von Wirkungen des eingesetzten Geldes: Reaktivierung und Mobilisierung des eigenen Wählerpotenzials sowie Verhinderung von Positionswechseln. Auf methodisch einfache Weise stellen Longchamp/Jans die drei Typen je den – nicht konsolidierten – Ausgaben der Parteien im Wahlkampf und der erreichten Parteistärke gegenüber und stellen eine grosse Übereinstimmung fest. Bei allen Effekten hat die SVP die Nase vorne. Der andere, von Externen verfasste Text stammt von Jan Fivaz und Daniel Schwarz. Sie vergleichen – wie Leimgruber u.a. (2010) – die politische Positionierung der Kandidierenden und der Wählenden und stellen fest, dass die Kandidierenden radikaler sind als die Wählenden. Anders als Leimgruber u.a. verwenden Fivaz/Schwarz jedoch nicht die wissenschaftlichen Umfragedaten von Selects, sondern die Daten der Online-Wahlhilfe von Smartvote. Diese sind mit 75 Fragen zu politischen Positionierungen der Kandidierenden sehr umfassend und können gut für die Analyse der Kandidierenden verwendet werden. Dass aber die 14 000 Smartvote-Benutzenden mit den Wählenden gleichgesetzt werden, geht jedoch nicht, auch wenn die gewonnenen Ergebnisse mit den Erkenntnissen der bisherigen Forschung «im Einklang» (S. 324) sind. Diese Unzulässigkeit sehen auch die beiden Autoren – was sie nicht daran hindert, auf der Grundlage dieser Gleichsetzung ihre Analyse durchzuführen. Der Text bietet immerhin einen Überblick über die Daten von Smartvote und könnte Anstoss für eine vertiefte Betrachtung der Verwendung von Big Data sein. Abgeschlossen wird der Sammelband mit zwei Aufsätzen, welche die Schweizer Parteienlandschaft in grössere Zusammenhänge stellen. Julian Bernauer und Sean Mueller analysieren die Nationalisierung der Parteienlandschaft auf der Basis der Kantonsergebnisse der Nationalratswahlen 1971 bis 2011. Sie verstehen unter Nationalisierung die Ähnlichkeit der Parteistärken über die Kantone und Regionen hinweg. Gemäss dieser Festlegung sind SP, Grüne und SVP etwas stärker nationalisiert als die übrigen Parteien, etwa die FDP. Letzteres lässt aufhorchen, ist doch die FDP als Gründerin der Schweiz von Anfang an fast überall in der Schweiz verankert, wenn auch mit regionalen Unterschieden der Parteistärke. Angesichts der diskriminierenden Einflüsse der unterschiedlich grossen Wahlkreise stellt sich die Frage, ob für diese Fragstellung nicht auch die Wahlergebnisse der kantonalen Parlamentswahlen hätten beigezogen werden können. Klaus Armingeon und Sarah Engler untersuchen das stark polarisierte Parteiensystem der Schweiz in international vergleichender Perspektive. Bei der Dimension «Öffnung vs. Schliessung» etwa ergab die Analyse, dass die Schweizer Gesamtwählerschaft relativ offen und fremdenfreundlich sei, dass aber die Parteien mit polarisierenden Positionen, allen voran der SVP, ihr Potenzial gezielt ansprechen und «heraussortieren» würden. Der Sammelband von Adrian Vatter und Markus Freitag bietet einen guten Überblick über die Wahlen in der Schweiz. Die meisten Texte sind lesefreundlich geschrieben. Den Gebrauchswert der Publikation gesteigert hätten ein Schlagwortregister und einen stärkeren gegenseitigen Bezug der Texte. Die Grafiken sind in einigen Aufsätzen von bescheidener Aussagekraft. Gewöhnungsbedürftig und wenig leserfreundlich ist der rund 90-seitige Anhang mit Tabellen und Literaturverzeichnis, aufgeteilt nach der Reihenfolge der 13 Aufsätze. Bemängelt werden muss der gelegentlich sorglose Umgang mit Umfragedaten. In einigen Aufsätzen werden Befragungsdaten behandelt, als ob sie eine Vollerhebung wären. Bei der statistischen Analyse von Umfragedaten aber müssen immer Signifikanztests gemacht bzw. Vertrauensintervalle berechnet und in den Grafiken ausgewiesen werden. Dies gilt insbesondere bei Analysen von kleinen Parteien wie der GLP und der BDP, aber auch bei den grösseren Parteien, vor allem, wenn gewisse Items bis auf die Kantonsebene heruntergebrochen werden. Der Sammelband ist als Publikation des gesamten politologischen Instituts der Universität Bern deklariert. Leider bleiben dabei ausgewiesene Wahlforscher unberücksichtigt wie z.B. der «Selects»-Leiter Georg Lutz oder Andreas Ladner, Pascal Sciarini und Daniel Bochsler. Dies soll kein Vorwurf an das Berner IPW sein, das die Mühe auf sich genommen hat, diesen nützlichen Sammelband zu erstellen. Es wäre aber für die Schweizer Politikwissenschaft ein Gewinn, wenn Forschende anderer Universitäten von der Aufbruchsstimmung, die das Berner IPW seit einigen Jahren verströmt, angesteckt würden und weitere Grundlagenwerke in einem erweiterten Autorenrahmen erstellt würden.

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