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Wie kam der Baum des Wissens zur Blüte? Der Aufstieg der physikalischen und theoretischen Chemie, mit besonderem Augenmerk auf Berlin und Leipzig

2016; Wiley; Volume: 128; Issue: 18 Linguagem: Alemão

10.1002/ange.201509260

ISSN

1521-3757

Autores

Břetislav Friedrich,

Tópico(s)

Various Chemistry Research Topics

Resumo

„Die physikalische Chemie ist nicht nur ein Zweig, sondern sie ist die Blüte des Baumes des Wissens” – damit feierte Ostwald, dass es der physikalischen und der theoretischen Chemie gelungen war, zur gemeinsamen Ausgangsbasis für die Chemie insgesamt zu werden. Wie das an den beiden historisch wichtigsten Standorten in Deutschland – Berlin und Leipzig – sichtbar wurde, wird in diesem Essay geschildert. Die physikalische und die theoretische Chemie entstanden mit der Absicht, die Chemie davor zu bewahren, zu einer Sammlung loser Fakten zu werden. Ihre Begründer, Jacobus van't Hoff, Wilhelm Ostwald und Svante Arrhenius, hatten sich Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen, das Allgemeine statt des Speziellen zu suchen, indem sie sich auf die Prozesse der Bildung chemischer Verbindungen – d. h. chemische Reaktionen – statt auf die Verbindungen selbst konzentrierten. Sie machten sich auch die Methoden der Physik, vor allem der Thermodynamik, zunutze, woraus die physikalische und die theoretische Chemie hervorgingen, die fortan Teil jeglicher künftigen Chemie sein sollten. Dass es der physikalischen und der theoretischen Chemie gelungen war, zur gemeinsamen Ausgangsbasis für die Chemie insgesamt zu werden, feierte Ostwald in seiner Proklamation “Die physikalische Chemie ist nicht nur ein Zweig, sondern sie ist die Blüte des Baumes [des Wissens]”. Der Duft dieser Blüte erwies sich als unwiderstehlich für zahlreiche Wissenschaftler, die die Chemie durch die Quantenrevolution und darüber hinaus führen sollten. Sie sollte sich erneut in der Prämisse erfüllen, dass der Weg zur allgemeinen Chemie über die Physik und Mathematik führt. In diesem Beitrag möchte ich die Entwicklung der physikalischen und der theoretischen Chemie chronologisch von ihrer Entstehung im 17. Jahrhundert bis zu ihren Höhepunkten in der Zeit nach der Quantenrevolution bis etwa 1940 darlegen. Besonderes Augenmerk soll dabei den Entwicklungen in Berlin und Leipzig gelten. Die Chemie als Wissenschaft entwickelte sich in einem langen Prozess, der nur von wenigen Umbrüchen begleitet war. Einer davon war vielleicht die Veröffentlichung von Robert Boyles Buch The Sceptical Chymist im Jahr 1661. Darin versuchte Boyle, die Chemie dem Griff der – wie er sie nannte – “vulgar chymists” zu entreißen, die mit Kommerz und Medizin befasst waren, um sie als Werkzeug für das Studium des Wirkens der Natur zu installieren.1 Er schürte die Skepsis gegenüber den aristotelischen Elementen und den Grundstoffen von Paracelsus und wollte die Chemie auf die Ebene einer experimentellen Grundlagenwissenschaft heben. Seine Vision spiegelt sich in seiner Feststellung wider:2 “I look upon experimental truths as matters of great concernment [importance] to mankind.” Von dieser Vision getrieben führte Boyle unzählige Experimente durch. Einige davon waren von allgemeinem, bleibendem Wert. Das inverse Verhältnis von Druck und Volumen eines Gases, bekannt als Boyles Gesetz, ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Er entdeckte es mit einer “pneumatischen Maschine”, die sein Assistent Robert Hook gebaut hatte (Abbildung 1). Boyles Gesetz bedient sich der Physik und der Mathematik, den anderen Werkzeugen zum Verständnis der Natur, die sich nicht nur als miteinander verbunden, sondern sogar als voneinander und von der Chemie untrennbar erweisen sollten. Zeitachse der physikalischen Chemie während ihrer Anfangszeit 1650–1840; siehe Text. Die Bezeichnung physikalische Chemie taucht erstmals im Werk des russischen Universalgelehrten Michail Lomonossow auf. Seine Definition von 1752 lautet:3 “Physikalische Chemie ist die Wissenschaft, die auf der Basis physikalischer Begriffe und Experimente erklärt, was in komplexen Körpern durch chemische Vorgänge geschieht.” Diese Definition mutet sehr modern an. Es dauerte jedoch noch mehr als hundert Jahre, bis sie weithin akzeptiert wurde. Eine der ersten Großtaten der Chemie, die Auswirkungen auf alle Naturwissenschaften hatte, war die Etablierung des Massenerhaltungsgesetzes. Obwohl seine Urform bereits in den Arbeiten Lomonossows enthalten war, stellten es erst die präzisen Versuche von Antoine Lavoisier und seiner Frau Marie-Anne auf eine feste Grundlage (Abbildung 1 enthält ein Doppelporträt der beiden von Jacques Louis David). Marie-Anne war nicht nur Wissenschaftlerin, sondern auch Malerin, worauf die Staffelei im Hintergrund anspielt. Ihre künstlerische Ausbildung hatte David selbst übernommen.1 Der Glaube daran, dass Physik und Mathematik bei der Erklärung chemischer Phänomene helfen können, spiegelt sich in den Gedanken wider, die Lavoisier in seiner Korrespondenz mit Pierre-Simon Laplace (1782) formulierte:4 “Vielleicht wird […] der Mathematiker […] eines Tages in der Lage sein, das Ergebnis jeglicher chemischen Reaktion an seinem Pult zu errechnen, in der gleichen Weise […], in der er die Bewegungen der Himmelskörper berechnet.” Das klingt wie ein Manifest der theoretischen Chemie: rechnen, um vorherzusagen. In seinem Meisterwerk von 1789, Traité élémentaire de chimie (illustriert von Marie-Anne), stellte Lavoisier eine Liste von 33 chemischen Elementen vor, die Licht sowie kalorische Substanz einschlossen, letzteres als Element der Wärme. Diese Liste bedeutete die endgültige Abkehr von der aristotelischen oder vorwissenschaftlichen Betrachtung der Materie. Das Gesetz der konstanten Proportionen, entdeckt von Joseph Proust,5 übernahm Lavoisiers chemische Elemente und etablierte eine Vorstellung von chemischen Verbindungen als Kombination chemischer Elemente in einem bestimmten ganzzahligen Verhältnis. Als Joseph Gay-Lussac dann das Gesetz der konstanten Proportionen bei Gasen entdeckte, war er davon so verzaubert, dass er erklärte:6 “On n'est peut-être pas très éloigné de l’époque à laquelle on pourra soumettre au calcul la plupart des phénomènes chimiques.”2 Einen weiteren Schritt zur Aufklärung der Beschaffenheit von Materie verdanken wir John Dalton. In seinem Werk A New System of Chemical Philosophy, das 1808 erschien, setzte Dalton chemische Elemente mit Atomen gleich, die er als untrennbare und unzerstörbare Teilchen beschrieb, welche ihre Eigenschaften in chemischen Reaktionen beibehalten. Seine Beweisführung erhielt zusätzliches Gewicht durch die Behauptung, Atome besäßen ein bestimmtes Gewicht, und er folgerte dies aus dem Gesetz der multiplen Proportionen, der Stöchiometrie usw. Dalton war maßgeblich beeinflusst von Isaac Newton, der in seiner mechanischen Ableitung von Boyles Gesetz7 die Existenz kleiner Teilchen annahm (die über Abstoßungskräfte miteinander wechselwirken, die umgekehrt proportional zu ihrer gegenseitigen Entfernung sind), sie aber nicht Atome nannte. Möglicherweise wollte Newton das Stigma des Atheismus vermeiden, das damals noch immer den atomistischen Lehren von Epikur und Lukretius anhaftete.8 Dalton jedoch war furchtlos – und eloquent, wie seine Erklärung9 beweist: “We might as well attempt to introduce a new planet into the solar system, or to annihilate one already in existence, [than] to create or destroy a particle of [say] hydrogen.” 1818 stellte Jöns Jacob Berzelius eine Tabelle mit 49 chemischen Elementen vor, die nach ihrem Atomgewicht geordnet waren.10 Berzelius, der die Chemie um zahlreiche moderne Begriffe bereicherte und eine Reihe chemischer Elemente entdeckte, führte auch die Bezeichnung Isomer11 für eine Entdeckung seines Schülers Friedrich Wöhler (Silbercyanat) und von Justus von Liebig (Silberfulminat, ein Sprengstoff) ein. Wöhler und sein Freund Liebig führten eine systematische Untersuchung an hauptsächlich organischen Verbindungen im Rahmen der erwähnten chemischen Gesetze durch. Die Entdeckung der Isomerie untermauerte die Atomtheorie und ließ die Arbeiten von Alexander Butlerow, Emil Fischer und weiteren über die chemische Struktur vorausahnen. Robert Boyles Ziel, die Chemie zu einer anerkannten Grundlagenwissenschaft zu entwickeln, wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von drei Chemikern aufgegriffen, die zu den Begründern der eigentlichen physikalischen Chemie wurden: Jacobus van't Hoff, Wilhelm Ostwald und Svante Arrhenius. Sie waren als Organiker ausgebildet, hegten aber eine Vorliebe für die Physik und Mathematik und teilten zwei zentrale Ansichten: Erstens, dass die Chemie reformbedürftig war, da sie sich in Richtung Taxonomie bewegte, einer losen Faktensammlung, die vor allem von Organikern gepflegt wurde. Zweitens, dass die Chemie, nach dem Vorbild der Physik, die Sprache der Mathematik sprechen und das Allgemeine suchen statt das Besondere genießen sollte. Schlüsselmomente der darauf folgenden Bemühungen sind auf der Zeitachse in Abbildung 2 dargestellt.3 Zeitachse der konzeptionellen (links) und institutionellen (rechts) Entwicklungen 1845–1940, die für die physikalische und die theoretische Chemie bedeutsam waren; siehe Text. Die Bezeichnung “physikalische Chemie”, die für diese Art künftiger Chemie verwendet werden konnte und wurde, existierte – wie wir gesehen haben – bereits, war aber nicht weit verbreitet. Einige Pioniere der physikalischen Chemie bevorzugten aber, zumindest vorübergehend, den Begriff “allgemeine” oder “theoretische” Chemie. Wie aber sollte man nach dem Allgemeinen in der Chemie forschen? Für das erwähnte Trio, das schließlich zum Triumvirat wurde, hieß die Antwort: indem man sich auf die Prozesse der Entstehung chemischer Verbindungen, also auf chemische Reaktionen konzentrierte und nicht auf das Studium der Verbindungen selbst. Die bahnbrechende Arbeit über das Schlüsselmerkmal einer chemischen Reaktion, die Gleichgewichtskonstante, wurde von zwei Norwegern, Cato Guldberg und Peter Waage, in norwegischer Sprache veröffentlicht.12 Das von ihnen entdeckte Gesetz, als Massenwirkungsgesetz bekannt, blieb wohlverborgen, bis Ostwald ein Dutzend Jahre später darauf stieß. Nach Guldberg und Waage war der Gleichgewichtszustand das Ergebnis eines Austarierens der Kräfte der Hin- und Rückreaktion, die von chemischen Affinitäten gelenkt werden. Ostwald untermauerte die Gültigkeit des Gesetzes mit eigenen Experimenten und machte es, zusammen mit der Idee der chemischen Affinität, zum Hauptgebiet seiner späteren Forschung. Van't Hoff war einer der Ersten, der die Thermodynamik auf chemische Fragestellungen anwandte. Er entdeckte das Gesetz unabhängig von den anderen und leitete eine Formel ab, die die Abhängigkeit der Gleichgewichtskonstante von der Temperatur beschreibt.13 Seine Arbeiten zur Temperaturabhängigkeit inspirierten Arrhenius dazu, eine Beziehung zwischen der Reaktionsgeschwindigkeit und der Temperatur herzustellen und nebenbei das Schlüsselkonzept der Aktivierungsenergie vorzustellen.14 Zusätzlich wandte er die Gleichgewichtstheorie auf Elektrolyte an,15 was fortan eine der Hauptbeschäftigungen des Triumvirats wurde und ihnen den Namen “Ionisten” eintrug. Während der Entstehungsjahre der physikalischen Chemie erlebte das Konzept der chemischen Affinität eine Wandlung von den vagen Ursprüngen als “chemische Kraft” bis zur Gleichsetzung mit dem Konzept der freien Energie nach Hermann von Helmholtz.16 Der Versuch der Ionisten, die Chemie als Wissenschaft weiterzuentwickeln, basierte größtenteils auf der Anwendung der thermodynamischen Methoden auf chemische Prozesse. Sie sprachen von “chemischer Dynamik”, ein Begriff, der später von der “Thermochemie” abgelöst wurde. “Chemische Dynamik” tauchte noch 1901 in der Begründung für die Vergabe des Nobel-Preises an van't Hoff auf, während es bei Nernst im Jahr 1920 bereits “Thermochemie” war. Die parallel durchgeführten thermodynamischen Arbeiten Josiah Willard Gibbs, später als “Principia der Thermodynamik” bezeichnet, wurden von den Chemikern (einschließlich der Ionisten) schlichtweg übersehen, obwohl sie alle Fragen beantworteten, die Chemiker umtrieben – von jenen nach den chemischen Kräften bis zu jenen nach der Natur der elektromotorischen Kraft.17 Der Grund dafür war: Gibbs arbeitete in völliger Isolation im ländlichen Connecticut und kommunizierte mit seinen europäischen Kollegen, hauptsächlich Physikern, durch die Übersendung von Nachdrucken seiner Artikel.18 Das musste er auch, da diese in den damals wie heute obskuren Transactions of the Connecticut Academy erschienen. 1892 übersetzte Ostwald Gibbs Hauptwerk ins Deutsche.19 Zu den dankbarsten Empfängern der Nachdrucke von Gibbs gehörte James Clerk Maxwell. Gibbs’ Arbeit faszinierte ihn derart, dass er aus Ton und Gips eine Gibbs-Energie-Fläche als Funktion des Volumens und der Entropie einer wasserähnlichen Substanz formte und die Isothermen und Isobaren darauf nachzog. Gibbs war sichtlich angetan, als der berühmte Maxwell ihm – einem “Chemieingenieur aus Connecticut” – eine Kopie der Skulptur schickte. Maxwell teilte mit Gibbs auch die Vorliebe für statistische Methoden in der Physik. Maxwells Geschwindigkeitsverteilung nahm Gibbs’ Arbeit auf diesem Gebiet voraus und inspirierte Ludwig Boltzmann. Über die Vorzüge statistischer Methoden sagte Gibbs:20 “We avoid the gravest difficulties when … we pursue statistical inquiries as a branch of … mechanics.”4 Ich möchte nun kurz den institutionellen Rahmen der physikalischen Chemie umreißen. Die erste Forschungsuniversität – basierend auf dem Humboldtschen Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre – war die Universität Berlin, gegründet 1810 und erst 1949, während der politischen Umwälzungen im geteilten Berlin, nach den Gebrüdern Humboldt benannt.21 Doch nicht an der Universität Berlin entstand das erste Forschungslabor der Chemie, sondern durch Justus von Liebig in den 1820er Jahren an der Universität Gießen.22 Er verband ein gut ausgestattetes Labor mit einem Kreis von Studenten, die aktive und kreative Forschung betrieben. Liebigs Schule lieferte ein Modell, das von den rund 30 Universitäten in Deutschland (einschließlich 10 technischer Hochschulen) übernommen wurde. Das führte dazu, dass die deutschen Universitäten Mitte des 19. Jahrhunderts weltweit eine Vorreiterrolle in der chemischen Forschung einnahmen.235 Die Universität Leipzig schuf als Erste einen Lehrstuhl für physikalische Chemie. Sein Inhaber war Wilhelm Ostwald, der zum unerschütterlichsten Fürsprecher des Forschungsgebiets und Gründer einer der einflussreichsten internationalen Schulen der physikalischen Chemie wurde. Gemeinsam mit van't Hoff begründete er auch die Zeitschrift für Physikalische Chemie, ein Sprachrohr der Chemie der Zukunft mit einem internationalen Team von Herausgebern. In der Einführung zur ersten Ausgabe24 schrieb er: “Die physikalische Chemie ist nicht nur ein Zweig, sondern ist die Blüte am Baum [des Wissens].”6 7 8 Schnell folgten weitere Lehrstühle für physikalische Chemie: Hans Landolt in Berlin und die Ostwald-Schüler Walther Nernst und Arthur Noyes in Göttingen bzw. am Massachusetts Institute of Technology (MIT). 1910 besaß etwa die Hälfte der deutschen Universitäten einen Lehrstuhl oder eine Abteilung für physikalische Chemie.22 Das spiegelte die Ansicht wider, dass die physikalische Chemie nicht nur eine Kerndisziplin der Chemie, sondern auch die Grundlage der chemischen Technologie war. Zum Vergleich: Oxford und Cambridge richteten ihre Lehrstühle für physikalische Chemie erst nach dem Ersten Weltkrieg ein. Die erste dem neuen Forschungsbereich gewidmete Zeitschrift außerhalb Deutschlands war das Journal of Physical Chemistry (JPC), das der Ostwald-Schüler Wilder Bancroft herausgab. In den ersten zehn Jahren erschienen darin 300 Artikel, die fast ausschließlich von Amerikanern und Kanadiern geschrieben waren. Ein Viertel davon waren Schüler Ostwalds, darunter Gilbert Newton Lewis, Arthur Noyes und Theodore Richards. Amerikanische Physikochemiker publizierten auch im Journal of the American Chemical Society (JACS); 1926 stammte ein Viertel aller darin veröffentlichten Artikel aus der physikalischen Chemie. Ein Zeitzeuge meinte:22 “Physical chemistry now seems about to swallow up chemistry proper.” Und was wird die physikalische Chemie schlucken? Nun, wohl alles außer dem Namen dürfte von der chemischen Physik und der theoretischen Chemie einverleibt werden. Aber auf dem Weg dahin müssen wir zunächst die Quantenrevolution streifen. Helge Kragh bemerkte dazu:25 “Quantum theory owes its origin to the study of thermal radiation, in particular to the ‘black-body’ radiation that Robert Kirchhoff had first defined in 1859–1860.” Die experimentelle Untersuchung der Hohlraumstrahlung (Strahlung eines schwarzen Körpers) ist ein Erbe von Helmholtz und seiner Zeit als Leiter der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR). Max Plancks Entdeckung des Strahlungsgesetzes26 bedeutete laut Abraham Pais27 das erste Auftreten des Planckschen Wirkungsquantums. Doch es brauchte noch drei weitere Auftreten, bis die Quantenmechanik wirklich da war: Das zweite war in Einsteins Arbeit über die Lichtquanten28 (oft fälschlich als Photoeffekt-Artikel bezeichnet) enthalten, das dritte in seiner Arbeit zur Wärmekapazität von Festkörpern.29 Diese Arbeit erregte die Aufmerksamkeit Walther Nernsts, der darin den Schlüssel zu seinem Wärmesatz sah. Als Reaktion darauf berief Nernst die erste Solvay-Konferenz ein. Das vierte Auftreten verbarg sich in Bohrs Atommodell,30 das die bestehenden Quantenvorstellungen mit der Entdeckung des Elektrons und des Atomkerns verband.9 10 Die Entdeckung der Quantenmechanik (Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger und Paul Dirac) wurde von einer Vielzahl weiterer für die physikalische und die theoretische Chemie wichtiger Entdeckungen flankiert, darunter Einsteins Analyse der Brownschen Bewegung31 und deren experimenteller Nachweis durch Jean Perrin.32 Das führte zur endgültigen Anerkennung der Teilchen- oder Atomstruktur der Materie, sogar durch hartgesottene Physiker (ausgenommen Ernst Mach) und Physikochemiker (Ostwald eingeschlossen). Es beschleunigte darüber hinaus den Niedergang der Theorie, Proteine und andere Makromoleküle seien Kolloide. Die Entdeckung der Röntgenbeugung an Kristallen durch Max von Laue33 hatte Auswirkungen auf die Erforschung von Strukturen und das Verständnis starker Elektrolyte – beides Hauptinteressen der physikalischen Chemie jener Zeit und auch später. William Lawrence und William Henry Bragg entdeckten das Gesetz, das der Röntgenbeugung zugrunde liegt und einen Schlüssel zur Analyse der Kristallstruktur lieferte.34 Die Arbeiten von Gilbert Newton Lewis35 und Irving Langmuir36 ließen die Theorie der kovalenten Bindung als Folge eines gemeinsamen Elektronenpaars vorausahnen. Schließlich führte die Entdeckung der Richtungsquantelung37 und des Spins38 zur NMR-Spektroskopie und zu anderen Wundern der Quantenphysik. Unmittelbar auf Schrödingers Wellenmechanik folgte Friedrich Hunds Entdeckung des Tunneleffekts.39 Mehr noch: Das Pauli-Prinzip und die Hundschen Regeln – neben den nachjustierten Wasserstoff-Energieniveaus – sorgten dafür, dass Mendelejews Periodensystem der Elemente einleuchtete.40 Eugene Wigner wandte die Gruppentheorie auf die Quantenmechanik an und formulierte die Auswahlregeln als erkennbare Signatur einer zugrundeliegenden physikalischen Symmetrie neu.41 Die 5. Solvay-Konferenz im Jahre 1927 festigte die Quantentheorie. Als sich der Staub der Quantenrevolution gelegt hatte, formulierte Dirac:42 “The underlying physical laws necessary for the mathematical theory of … the whole of Chemistry are thus completely known, and the difficulty lies only in the fact that application of these laws leads to equations that are too complex to be solved.” Also lautete die Hauptfrage der theoretischen Chemie: Wie sind diese Gleichungen zu lösen? Die recht erstaunliche Geschäftigkeit, die folgte, brachte einige Antworten zutage. Die Schrift von Walter Heitler und Fritz London über die kovalente Bindung (1927) definiert den Beginn der Quantenchemie.43 Sie bewiesen darin nicht nur, dass die chemische Bindung ihre Existenz einem Quanteneffekt verdankt, sondern lieferten auch das erste Beispiel für die hohe Kunst der mathematischen Näherung, die in der Quantenchemie von entscheidender Bedeutung werden sollte. Dieser Schrift folgte rasch die Einführung der Born-Oppenheimer-Näherung,44 des folgenreichen Thomas-Fermi-Modells45, 46 und der Methode des selbstkonsistenten Feldes durch Hartree.47 Das Jahr 1931 kann aus gutem Grund als Annus mirabilis der theoretischen Chemie bezeichnet werden.48 Die Wiederaufnahme von Arrhenius’ Aktivierungsenergie mittels der Eigenenergie-Oberfläche der Elektronen durch Fritz London,49 Henry Eyring und Michael Polanyi50 eröffnete, zusammen mit der Idee einer rollenden Kugel auf dieser Oberfläche, einen völlig neuen Zugang zur Visualisierung und Interpretation einer chemischen Reaktion. Die rivalisierenden Valenzbindungs- und Molekülorbitaltheorien erwiesen sich im Grunde als komplementär, wie John Van Vleck51 als Erster in versöhnlicher Manier feststellte. Zwanzig Jahre später formulierte Charles Coulson kurz und bündig:52 “[There is] a kind of uncertainty relation about our knowledge of molecular structure: the more closely we try to describe the molecule, the less clear-cut becomes our description of its constituent bonds.”11 Offensichtlich war Eugene Wigner der Erste, der die Elektronenenergie über die Hartree-Fock-Näherung hinaus berechnete (am Beispiel von metallischem Natrium), und er prägte den Begriff “Korrelationsenergie” für die beobachtete Korrektur.53 Den nächsten Schritt in Richtung einer Theorie der chemischen Reaktion auf der Grundlage der Quantenmechanik taten Polanyi und Eyring, die zu jener Zeit nicht mehr zusammen arbeiteten. Sie kombinierten ihre semiempirischen Potentialhyperflächen mit Erwägungen aus der statistischen Quantenmechanik zur Theorie vom “Übergangszustand” (Polanyi)54 bzw. “aktivierten Komplex” (Eyring).55 Im gleichen Jahr legte John Van Vleck den Grundstein für die Ligandenfeldtheorie.56 Er zeigte, dass in chemischen Komplexen “electrons from a paramagnetic cation are allowed to wander onto the anions and vice versa, so that there is incipient covalence.”57 Die Zeitachse in Abbildung 2 enthält auch die Entdeckung der Kernspaltung, da diese am Ende der oben beschriebenen Ideengeschichte des chemischen Elements steht. Auf institutioneller Seite wurde der Aufstieg der physikalischen und der theoretischen Chemie durch folgende Entwicklungen gefördert: In London wurde die Faraday Society58 gegründet, benannt nach einem Begründer der Elektrochemie. Die Deutsche Gesellschaft für Elektrochemie (seit 1902 Bunsen-Gesellschaft), die sich der physikalischen Chemie und Elektrochemie verschrieben hat,59 wurde mit Ostwald als erstem Präsidenten gegründet. In Deutschland entstand die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (heute Max-Planck-Gesellschaft). Eines der ersten beiden Institute widmete sich der physikalischen Chemie. Sein Gründungsdirektor war Fritz Haber.60 Der erste Lehrstuhl für theoretische Chemie wurde an der Universität Cambridge für John Lennard-Jones eingerichtet, der ihn ein “mathematisches Labor” nannte.61 Weitere Zeitschriften für physikalische Chemie wurden gegründet, darunter das Journal de Chimie Physique in Frankreich und die Faraday Transactions in Großbritannien. Die vielleicht wichtigste Entwicklung in Bezug auf Publikationsmöglichkeiten für die physikalische Chemie nach der Quantenrevolution war die Gründung des Journal of Chemical Physics (JCP) mit Harold Urey als Chefredakteur. JCP stellte eine Plattform für rein theoretische Arbeiten zur Verfügung, die beim konkurrierende Journal of Physical Chemistry (JPC) keine Akzeptanz fanden. Jedenfalls bezeichnete Harold Urey Veröffentlichungen im schließlich erfolglosen JPC als “burial without a tombstone.”62 In der allerersten Ausgabe von JCP sind Kleinode zu finden wie John Slaters Analyse der kovalenten Bindung in Form des Virialsatzes sowie Beiträge von Langmuir, Debye, Pauling, G. N. Lewis, Eyring und anderen. JCP wurde zum Triumph der Physikochemiker, die sich an der Physik und der Mathematik orientierten. Ostwalds Vorhersage aus dem 19. Jahrhundert, dass der Weg zur allgemeinen Chemie über die Physik und Mathematik führen würde, erfuhr damit neuen Auftrieb.22 Hiermit beschließen wir unsere Zeitreise durch die ersten heroischen Epochen der physikalischen und der theoretischen Chemie, die von der Einbindung der Thermodynamik und der Quantenmechanik gekennzeichnet waren. Abbildung 2 enthält auch eine Mahnung, die die Gegenwart betrifft, für die Rechenmethoden in Kombination mit dem Verlassen auf Digitalcomputer charakteristisch sind. Sie stammt von keinem geringeren als Richard Feynman. Feynman war selbst einmal theoretischer Chemiker und entdeckte als Student bei John Slater das, was als Hellmann-Feynman-Theorem bekannt wurde. Sein Rat:63 “[I]f you want to make a simulation of nature, you'd better make it quantum mechanical …” Nun, wahrscheinlich – oder hoffentlich – wird der Quantensimulator oder Quantencomputer das Arsenal an Näherungsgleichungen, die zur Behandlung chemischer Fragen aufgestellt wurden, als Rechenwerkzeuge überflüssig und die theoretische Chemie wahrhaft vorhersagefähig machen.64 Natürlich nur, sollte es je einen universellen Quantencomputer geben … Im Weiteren werde ich mich auf die Beschreibung der wichtigsten Entwicklungen auf dem Gebiet der physikalischen und der theoretischen Chemie in Berlin und Leipzig beschränken. Dabei präsentiere ich die Forscher, die aus diesen beiden Städten heraus am meisten dazu beigetragen haben. Porträts der Leipziger Professoren für physikalische Chemie sind in Abbildung 3 zu sehen. Die ersten Lehrstuhlinhaber für physikalische Chemie in Leipzig (von links nach rechts): Wilhelm Ostwald (1853–1932), Max Le Blanc (1865–1943), Karl Friedrich Bonhoeffer (1899–1957). Nach seiner Ankunft aus Riga fand Wilhelm Ostwald in Leipzig alles andere als hervorragende Bedingungen vor: Das Gebäude erwies sich als “an old pile in every way unfitted for the carrying on of those delicate experiments which brought Ostwald to the forefront of scientific workers”.65 Zudem musste er Erstsemester in analytischer und pharmazeutischer Chemie unterrichten, wofür sich Johannes Wislicenius, der führende Chemiker jener Zeit in Leipzig, zu schade war.12 1898 stellten die Universität und die sächsische Regierung Ostwald endlich das jetzige, viel besser geeignete Gebäude zur Verfügung, das er selbst entworfen hatte.66 Ein Kommentator, der für Nature schrieb, formulierte es so: Das Gebäude sei “a proof of the appreciation of the importance of the new science and of Ostwald's services”.65 Bei der gut besuchten Einweihung des Instituts (Abbildung 4) wurde zugleich das neue Gebiet der physikalischen Chemie gefeiert. Einweihung von Ostwalds Institut in Leipzig mit Ostwald am Rednerpult und S. Arrhenius, J. van't Hoff, W. Nernst, M. Planck, G. H. Wiedemann, H. Landolt, J. Wislicenus sowie anderen im Publikum. Nach seinem frühen Ruhestand (1906) war Ostwald weiterhin auf vielen Gebieten erfolgreich: von der Philosophie über die Malerei bis zum Engagement für den Frieden. Sein Credo “Vergeude keine Energie, nutze sie!” ist sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne höchst modern. Max Le Blanc war eine Art Doppelgänger Fritz Habers. Er studierte wie dieser in Berlin bei August Wilhelm von Hofmann und hatte eine Professur an der Technischen Hochschule Karlsruhe inne. In der Zwischenzeit war er jedoch, anders als Haber, Ostwalds Assistent und Habilitand. 1906 wurde Le Blanc Ostwalds Nachfolger in Leipzig. Damit räumte er den Professorenstuhl in Karlsruhe, der anschließend mit Haber als Ordinarius besetzt wurde. Le Blanc war Elektrochemiker und arbeitete hauptsächlich an der Zersetzungsspannung und anderen Aspekten der Elektrolyse.13 Karl Friedrich Bonhoeffer war ein Schüler von Walther Nernst, Assistent von Fritz Haber und Le Blancs Nachfolger in Leipzig. Die Familie Bonhoeffer, vor allem Karl Friedrichs Bruder Dietrich und Schwester Christine, leistete dem Hitlerregime heldenhaften Widerstand.67 Karl Friedrich war nach dem Zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau der deutschen Wissenschaft beteiligt, wobei er – meist parallel – mehrere Funktionen bekleidete. Seine breit gefächerten wissenschaftlichen Aktivitäten schlossen Untersuchungen zur Kinetik chemischer und biochemischer Reaktionen ein. Dabei nutzte er als einer der Ersten die Deuterierung als Mittel zur Entschlüsselung von Reaktionsmechanismen.14 Portäts der Berliner Professoren für physikalische Chemie sind in Abbildung 5 zu sehen. Die ersten Professoren für physikalische Chemie in Berlin (im Uhrzeigersinn von links oben): Hans Landolt (1831–1910), Jacobus van't Hoff (1852–1911), Walther Nernst (1864–1941; Portrait von Max Liebermann von 1911), Max Volmer (1885–1965), Max Bodenstein (1871–1941), Fritz Haber (1868–1934). Hans Landolt war der erste Inhaber des neu eingerichteten Lehrstuhls für physikalische Chemie an der Universität Berlin. Landolt war Schüler von Robert Bunsen und widmete sein Leben der Beziehung zwischen der chemischen Zusammensetzung und den physikalischen Eigenschaften von Substanzen.6815 Sein Name ist verbunden mit dem Standardnachschlagewerk, den Landolt-Börnstein-Tabellen, deren erste Auflage 1883 erschien. Heute umfassen die Tabellen etwa 400 Bände und sind als Datenbank verfügbar.69 Anlässlich von Landolts Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften sagte Emil du Bois-Reymond, der ständige Sekretär der Akademie, “die physikalische Chemie ist die Chemie der Zukunft”.24 Jacobus van't Hoff kam 1896 nach Berlin, als die Zahl seiner Errungenschaften bereits sehr groß war.70 Ich möchte hier zusätzlich zu seinen epochalen Beiträgen zur chemischen Thermodynamik einige weitere erwähnen.16 In seiner Dissertation 1874 schuf er die Grundlagen für die Stereochemie mit der vorausschauenden Hypothese, dass die Bindungen eines Kohlenstoffatoms auf die Eckpunkte eines Tetraeders gerichtet sind.71 57 Jahre später legitimierte Pauling diese Annahmen in seiner Theorie der gerichteten Valenz.72 Van't Hoffs Arbeiten über den osmoti

Referência(s)