Homo Citans und Kohlenstoffallotrope: Für eine Ethik des Zitierens
2016; Wiley; Volume: 128; Issue: 37 Linguagem: Alemão
10.1002/ange.201600655
ISSN1521-3757
AutoresRoald Hoffmann, Artem A. Kabanov, Andrey A. Golov, Davide Μ. Proserpio,
Tópico(s)Metal-Catalyzed Oxygenation Mechanisms
ResumoZitieren ist Pflicht, zitieren ist Alltag. Wir zitieren, weil wir Glieder in einer Kette sind, weil wir Eigenschaften und Methoden nutzen, die andere begründet haben. Wir zitieren auch, um die Furcht vor Beeinflussung zu überwinden. Und um fair zu sein. Nach Beschreibung der Gründe für das Zitieren stellen wir zwei Fallstudien von Zitationsamnesie auf dem Gebiet hypothetischer Kohlenstoffallotrope vor and präsentieren ein Computersuchsystem (SACADA) für dieses (kleine) Untergebiet. In einem der Klassiker der Gelehrsamkeit "Auf den Schultern von Riesen"1 spürt Robert K. Merton, einer der Großen der Wissenschaftssoziologie, der verwickelten Geschichte einer Bemerkung von Isaac Newton nach: "Wenn ich weiter sehen konnte, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand". Mertons Buch ist auch eine humanistische Tollerei, eine köstliche, humoristische Zerlegung der Ansprüche von Gelehrten – einschließlich denjenigen seines Autors. Merton verfolgt den "Aphorismus", wie er diese treffende Beobachtung Newtons nennt, zurück bis zu Bernhard von Chartres, und er dokumentiert seine Entdeckungsreise durch eine Ansammlung mehr oder weniger glanzvoller gallischer, jüdischer und angelsächsischer Autoren – bis hin zu Newton und dann darüber hinaus zu Claude Bernard, Bucharin und Freud. Jeder hätte die Quelle dieses verführerischen Gleichnisses zitieren sollen. Einige taten es, anderes dachten sich irgendwelche imaginären Ursprünge aus. Und Dritte wiederum versuchten, den Satz einfach als eigene Schöpfung auszugeben und die korrekte Zitierweise herablassend als unwichtig zu betrachten. Dennoch hatte der Aphorismus Bestand. Weil er eine physische Tatsache mit einer Wahrheit verband: Selbst wenn wir uns vorstellen (und dabei wünschen, dass andere es anerkennen), dass unser schwer gewonnenes Wissen neuartig ist, besser und tiefer als das, was vor uns kam, können wir nicht umhin zuzugeben, dass es von dem abhängt, was andere vorher getan haben. Die Zitate des Romanautors sind versteckt, Doktoranden müsssen sie ausgraben. Der Wissenschaftler ist deshalb zwangsweise und ausdrücklich homo citans et citatus. In diesem Essay werden wir zuerst einen Blick darauf werfen, weshalb angemessenes Zitieren für das Wohlergehen unserer Wissenschaft unverzichtbar ist. Dann schreiten wir vom Idealfall zu zwei Fallstudien fort, in denen es um fehlerhaftes Zititieren in einem Untergebiet der Chemie und Physik geht, dem der hypothetischen Kohlenstoffallotrope.2,3 Einer dieser Fälle hat es geschafft, in drei Jahrzehnten einen Komplexitätsgrad zu erreichen, für den der "Aphorismus" acht Jahrhunderte benötigt hat. Fehler zu finden, ist leicht. Wir wollen aber versuchen, auf zwei Arten darüber hinaus zu gehen. Zuerst wollen wir bodenständige Vorschläge für eine effektivere Literatursuche machen. Und selbst einen Ratschlag dafür geben, was Sie – was Gott verhüten möge! – tun sollten, wenn Sie eine entscheidende Zitation übersehen haben sollten. Und zweitens werden wir – wenigstens für das Untergebiet, das wir hier behandeln – ein der Computerzeit gemäßes Werkzeug vorstellen, mit dessen Hilfe Sie verhindern können, einen Narren aus sich zu machen. Dafür gibt es zahllose Gründe; wir präsentieren eine Auswahl. 1. Die Tradition der Gelehrsamkeit: Um Gleichnisse zu mischen, wenn nicht gar Zwerge auf Gigantenschultern zu stellen: Wir sind Glieder einer Kette. Zitieren ist normal, mindestens so alt wie die Faulheit, die oft dahintersteht, wenn wir denjenigen das Ansehen versagen, das sie eigentlich verdienen. Die europäische, afrikanische und asiatische Gelehrtenkultur hat an uns eine Tradition weitergereicht, die sich zu erhalten lohnt. Und nicht nur in Anatevka. Werfen Sie einen Blick auf die mit Zitaten übersäte Orthograhie einer Seite des Talmud (redigiert 600 Jahre nach unserer Zeitrechnung)4 oder in die Schriften des Konfuzius (551–479 v. Chr.), der die älteren Texte des Shang-su (oder Shu-ching, das "Buch der Urkunden") zitiert;5 die "Kette der Gelehrsamkeit" ist offenkundig. Anthony Grafton zeichnet in seinem köstlichen Buch "The Footnote: A Curious History" die Entwicklung des Zitierens in der europäischen Geschichtsliteratur nach, beginnend mit der Renaissance (Deutscher Titel: "Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote", dtv, München 1998). 2. Historie. Ja, es gibt Neues auf unserer Welt – ein Gramm Buckminsterfulleren, die spezielle Relativität. Aber für alles, absolut alles gibt es Vorläufer, selbst für das genannte Molekül und die Theorie darüber. Wenn wir ethische Überlegungen an dieser Stelle einmal außer Betracht lassen: Wir sind unverfroren und ununterbrochen daran interessiert, wie das Neue entstand. Wissen wird erhalten und wir respektieren das. 3. Zweckmäßigkeit. In unseren wissenschaftlichen Publikationen nutzen wir die Messungen anderer. Wir verwenden außerdem ihre Defintionen, Konzepte und Methoden. Es ist uneffektiv, die kalorimetrischen Messungen zu wiederholen, mit deren Hilfe die Wärmeentwicklung beim Verbrennen von – sagen wir: 10 g Ethanol – bestimmt wurde. Oder die Rechnungen über die mittlere Position eines Elektrons in einem Atom mit vielen Elektronen zu wiederholen. Also zitieren wir das NIST Chemistry WebBook, eine elektronische Ressource, die vom National Institute of Standards and Technology vorgehalten wird (das seinerseits experimentell bestimmte Daten zur Bildungswärme des Ethanols zitiert und kritisch miteinander vergleicht).7 Im zweiten Fall fügen wir ein Zitat über Desclauxs klassische Tabellen über atomare Berechnungen ein.8 4. Vermeidung von Doppelarbeit. Wir zitieren, weil wir nicht unnötig das, was vorher getan wurde, wiederholen wollen und sollen. Wir wollen Doppelarbeit vermeiden. Wohlgemerkt: Selbstverständlich müssen sowohl experimentelle Messungen als auch Computerbeweise überprüft werden. Während wir dieses schreiben, erscheint ein Bericht über die Supraleitfähigkeit einer Substanz bei 200 K, die es seit ewigen Zeiten in chemischen Laboratorien gibt: Schwefelwasserstoff. Sie können sicher sein, dass dieses Experiment in mehreren Laboratorien wiederholt wird. Das ist übrigens recht schwierig, ganz anders als z. B. bei Cuprat-Supraleitern. Die vielgepriesene Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Messungen muss immer wieder auf den Prüfstand gestellt werden. Die "wissenschaftliche Methode" wird dadurch in keiner Weise verletzt.9 Sollte die neunte Synthese von Palau'amin publiziert werden? Selbstverständlich, wenn das Syntheseziel auf einem anderen Weg als dem der Erstsynthese erreicht wurde oder sich sonstwie unterscheidet. Sollte der Entwurf eines Kohlenstoffallotrops, von dem behauptet wurde, dass er beispiellos sei, publiziert werden, wenngleich eine Publikation über dasselbe Allotrop bereits in der chemischen Literatur vorliegt? Diese Frage wird uns in den beiden detaillierten Fallstudien beschäftigen, die wir hier präsentieren. Aber wir wollen uns einem Urteil nicht entziehen: Nein – es sei denn, die zweite Arbeit vergrößert den Wert des Entwurfs, etwa durch Berechnung einer bestimmten Eigenschaft. 5. Begründung von Glaubwürdigkeit. Wir zitieren, damit unsere Fachkollegen sehen, dass wir die Literatur kennen. Dadurch wird der Grund dafür gelegt, dass unsere Entdeckung oder Einsicht als neu und Verständnisfortschritt angesehen wird. "Spinner"-Veröffentlichungen erkennt man am Mangel an Liteteraturzitaten oder an exzessiven Eigenzitaten. Eine Taxol-Synthese, die nicht Robert A. Holtons Erstsynthese zitiert,10 wird vermutlich nicht zur Publikation angenommen. Das Erwähnen der acht anderen Synthesen, die in Wikipedia gelistet werden, führt in die graue Zone des zu wenig/genau richtigen/zuviel Zitierens. Wenn ein guter Doktorand so weit ist, dass er seine Dissertation schreiben kann, könnte er 90% der Literaturzitate vorhersagen, die in einer Veröffentlichung mit dem Thema seiner Arbeit zitiert werden. Was allerdings kaum Trost ist, wenn sie nicht Mitautoren der entsprechenden Arbeit sind. 6. Priorität. Wir zitieren andere (und auch unsere früheren Arbeiten), um unsere eigenen Forschungen als neuartig zu etablieren, als verschieden von dem, was früher getan wurde. Hier lauert Gefahr! Wenngleich es eine natürliche Tendenz gibt, die Kraft unserer eigenen Originalität zu bezweifeln (Reden wir über uns selbst?), scheint das Studium der menschlichen Natur in eine andere Richtung zu weisen: Die Menschen neigen dazu, die Qualität dessen, was sie getan haben, zu überschätzen. Wir hassen Publikationen von Autoren, die sich einbilden, ihre eigenen Originalitätsansprüche damit begründen zu können, dass sie das partielle Verständnis, dass ihren Arbeiten vorausging, herabsetzen, dass sie Fehler zitieren, Auslassungen, alles, was nicht geklappt hat. Die Psychologie dieses Verhaltens ist nur allzu durchsichtig: Wenn man selbst wenig zu sagen hat, weist man gerne darauf hin, was andere Menschen falsch gemacht haben. Wer selbst etwas wirklich Neues mitzuteilen hat, verhält sich nie so. Er stellt das vor, was er getan hat. Dennoch ist Priorität wichtig. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass Prioritätsfragen für die "Wissenschaft" ohne Belang seien. Wenn Einstein nicht im Jahre 1905 die Gleichung E=mc2 abgeleitet hätte, hätte das sicherlich schon bald ein anderer getan.11 Oder vielleicht auch nicht so bald… Aber aus psychologischen Gründen ist das aus zwei Gründen eine wenig informierte Sichtweise. Wenn man zum einen die armseligen finanziellen Belohnungen des überwiegenden Teils wissenschaftlicher Forschungen als gegeben betrachtet, so sind die Ideen, die wir haben, und die Moleküle, die wir herstellen, die "Kinder unserer Gedanken". Als solche sind sie unbezahlbar. Und wenn irgendjemand versäumt, sie zu zitieren, fühlt sich das wie eine Verletzung an.12 Zweitens: die Wahrheiten, die wir sammeln, die Moleküle, die wir herstellen, sind universell. Aber unsere Welt wird durch diejenigen gestaltet, die das Neue erschaffen. Und sie erzielen dieses, indem sie miteinader in einer bestimmten zeitlichen Abfolge wechselwirken. Die Welt ändert sich durch Zufall und die Umstände. Wenn Kekulé uns nicht vor 150 Jahren die Struktur des Benzols gegeben hätte, hätte sich die organische Chemie in eine andere Richtung entwickeln können, indem sie Moleküle und Reaktionen auf andere Weise betrachtet hätte als wir sie durch unsere chemische Erfahrung kennen. Priorität zu etablieren, ist also wichtig. Und das besonders wenn praktische Bedeutung, die durch kommerziellen Wert belegt wird, ins Blickfeld kommt. Die Belohnungen sind das beste, was man für Geld kaufen kann. Die Anerkennung der Priorität erfolgt hier über das Patentsystem, ein rechtliches Einverständnis, eine Erfindung auszubeuten im Austausch gegen seine Enthüllung. Leider haben wir hier nicht Platz und Zeit, die faszinierende Logik von Priorität und Zitation in Patenten zu sondieren, die Praxis, Patente zu "prüfen", um gegebenenfalls frühere Entdeckungen zu finden. Auch außerhalb des Patentwesens ist die Bedeutung von Entdeckungen manchmal schwierig zu ermitteln. Wir verweisen den Leser auf die fasziniernde Geschichte der Entdeckung und Patentierung der Laser,13] oder auch auf die Geschichte der Entdeckung des Sauerstoffs, die Gegenstand eines Theaterstücks von Carl Djerassi und Roald Hoffmann ist.14 7. "Einflussangst" überwinden. Diese Kategorie schließt sich nahtlos an die vorherige an. Der Ausdruck ist Harold Blooms bemerkenswertem Buch entnommen,15 und wir danken Mario Biagioli für seinen Hinweis darauf.16 Wir sind wandelnde Ansammlungen von Einflüssen – unserer Eltern, unserer Lehrer, der Veröffentlichungen, die wir gelesen haben. Und irgendwie machen wir aus diesem Flickenteppich von Einflüssen – unterstützt vom Wirken des Zufalls – das Neue: ein Molekül, das tatsächlich vorher noch nicht auf der Erde war, eine neue Theorie. Wie können wir "original" sein, wenn so viel in das hineingeht, was wir tun? Harold Bloom sah diese Spannung am ausgeprägtesten bei Dichtern, denn ihre Stärke ist ihre Originalität – ganz ähnlich wie bei Wissenschaftlern. Bloom erarbeitete eine Typologie der von Dichtern explizit oder im Unterbewusstsein genutzten Strategien zur Verneinung, zum Ausweichen und ganz allgemein dem Finden von Wegen zur Vermeidung des Einflusses anderer Dichter. Es lohnt sich, über diese Kategorien zu lesen, denn man kann Punkt-für-Punkt Parallelen zu den Erfahrungen zeitgenössischer Chemiker erkennen. Zitationen erlauben Chemikern, die Einflussangst zu bändigen. Wir zitieren Arbeiten, die "ein Stück weit" den unsrigen vorangingen. Wir benennen diese Stücke – ob faktischer oder konzeptioneller Natur –, die das, was wir tun beeinflussen. Zugegebenermaßen ziemlich selektiv, und gelegentlich führt uns dieses Verhalten in Schwierigkeiten. Das Netz von rund 50 Zitationen, die für eine typische chemische Veröffentlichung charakteristisch sind, enthüllt diese Einflüsse. Und dient gleichzeitig dazu, die zugrundeliegenden Zweifel des Autors über die Originalität seiner Arbeit zu beschwichtigen. 8. Die Welt verbinden. Es ist wunderbar, nicht nur den brillanten Syntheseplan einer organischen Synthese zu erkennen (oder den brillanten Rettungsplan, wenn der ursprüngliche Plan gescheitert ist), sondern auch die Nutzung einer Vielzahl von Synthesemethoden, die hier und da über die chemische Literatur verstreut sind. Und für einen Theoretiker: Was für ein Vergnügen, über eine Denkmethode zu verfügen, mit deren Hilfe ein oder zwei rätselhafte Probleme verstanden werden können, von denen niemand gedacht hätte, dass sie etwas miteinander zu tun haben. R. B. Woodward spricht hierüber in seiner Cope Lecture,17 und aus dem gleichen Grunde hat Roald Hoffmann seine Nobelvorlesung der Isolobalanalogie gewidmet18 und nicht der Geschichte der Orbitalsymmetriekontrolle chemischer Reaktionen. 9. Fairness. Was für altes Konzept, könnten manche sagen. Ist das nicht in der heuchlerischen Klassenstruktur des kolonialen Gentlemans verankert? Keineswegs, Fairness ist wichtig. Am Ende zitieren wir, um fair zu sein. Um die Leistungen derjenigen anzuerkennen, die vor uns kamen. Dahinter steht ein nicht geäußertes Ideal: die gemeinsam geteilte Auffassung eines Corpus verlässlicher wissenschaftlicher Information, der von vielen individuellen Beiträgen errichtet wurde. Und die Freude daran, dass es in einer bedrängten Welt einen Ort gibt, an dem die Dinge ungefähr so sind, wie sie sein sollten. Wissenschaft ist eine Mikrogesellschaft, und es war Merton der für uns beschrieben hat, wie sich diese Gesellschaft von anderen unterscheidet. Eine ihrer grundlegenden Plichten (und Befriedigungen) ist es, dort Anerkennung zu zollen, wo Anerkennung geboten ist. Nach Mario Biagioli ist Wissenschaft auch ein Gemeingut, und Zitationen bilden einen Teil der Gebühren, wenn man es nutzen will. Die American Chemical Society hat "Ethical Guidelines to Publication of Chemical Research" vorgelegt.19 Über das Zitieren heißt es dort: "Ein Autor soll die Publikationen zitieren, die die Natur der beschriebenen Arbeit beeinflusst haben und die den Leser rasch zu den früheren Arbeiten führen, die unverzichtbar für das Verständnis der vorliegenden Untersuchungen sind. Außer bei Übersichtsartikeln sollten Zitationen, auf die sich die vorliegenden Arbeit nicht bezieht, so gering wie möglich gehalten werden. Der Autor ist verpflichtet, eine Literatursuche durchzuführen, um die Originalpublikationen zu finden und dann zu zitieren, die nahe verwandte Arbeiten behandeln. Wird für die Arbeit kritisches Material in der Publikation genutzt, sollte auch auf Quellen hingewiesen werden, die von Nichtautoren zur Verfügung gestellt wurden." Die European Association for Chemical and Molecular Sciences schreibt in ihren "Ethical Guidelines for Publication in Journals and Reviews":20 "Autoren haben die folgenden Verpflichtungen: 3.1 Wissenschaftliche Daten sollen auf ehrliche Weise gesammelt und interpretiert werden. Herausgeber, Gutachter, Leser und Verleger haben das Recht anzunehmen, dass eingereichte (und publizierte) Manuskripte keine wissenschaftlichen Unehrlichkeiten und/oder Fälschungen enthalten, u.a. keine frei erfundenen Resultate, plagiiertes Material, Auslassung von Literaturzitaten, falsche Äußerungen zur Priorität, "versteckte" Mehrfachveröffentlichungen derselben Resultate und falsche Autorenschaft. 3.3 Schon publizierte Arbeiten, die mit dem eingereichten Manuskript in Verbindung stehen, sollen durch korrekte Literaturzitate und Zitationen ihre angemessene Würdigung finden. Alle Quellen sollen angegeben werden und wenn ein signifikanter Anteil der Arbeit Ergebnisse anderer nutzt, soll die Zustimmung des Autors in Übereinstimmung mit den Copyright-Gesetzen eingeholt werden." Der Council of Science Editors (CSE) publizierte im Jahre 2006 ein "White Paper on Promoting Integrity in Scientific Journal Publications", das 2012 in revidierter Form vorgelegt wurde.21 Wir gewannen bei der Lektüre der 81 Seiten des Berichts den Eindruck, dass der CSE von Angst getrieben wird. Was die Literaturzitate anbelangt, enthält das Weißbuch eine ganze Sektion über die Manipulation von Zitaten, aber von einer guten Zitationspraxis ist – so weit wir das erkennen können – nur zweimal die Rede: "Der Gutachter sollte sicherstellen, dass eine Beobachtung oder ein Argument, das bereits früher publiziert wurde, von einem einschlägigen Zitat begleitet wird, und soll den Herausgeber sofort darauf aufmerksam machen, wenn er eine Doppelpublikation bemerkt. ...Herausgeber sollen von Autoren fordern, dass diese relevantes Material zitieren und referieren, auf dem die eingereichte Arbeit beruht." Dieses sind wohldurchdachte Äußerungen, aber insgesamt enttäuscht das Weißbuch. Kodices und Richtlinien dienen vielerlei Zwecken. Selbst wenn wir wissen, dass Menschen sie verletzen, stellen wir mit diesen Regeln ideales, doch realistisches Verhalten vor. Sie dienen ganz sicher mehr oder weniger rechtlichen Standards, sollte es zu ihrer Überschreitung kommen. Sie haben aber auch einen moralischen und ermahnenden Zweck. Wir denken überdies, dass es genauso wichtig ist, jungen Mitgliedern unserer Profession zu zeigen, was richtig und gut ist, wie auch, wo die Grenzen liegen, an denen die Regelverletzung beginnt. Wir wünschten, unsere Journale sagten mehr. Tatsächlich stellt die Zitationsethik einen Bereich dar, auf dem sich der altehrwürdige Peer-review-Prozess bewährt hat. Wissenschaftler sind Menschen und Menschen sind Menschen, will sagen, sie sind faul, selbst wenn sie anständig sind. Roald Hoffmann hat sich sorgfältig mit nichtbegutachteten Arbeiten beschäftigt, so wie sie z. B. in arXiv22 erscheinen (ein Kommunikationsforum, für das sich Chemiker kaum interessieren, aber das in weitem Umfang von Physikern, Astronomen und anderen genutzt wird). Ihm scheint, dass diese Veröffentlichungen es oft an der Qualität ihrer Illustrationen missen lassen sowie der Fairness und Angemessenheit, mit der sie die Literatur zitieren. Wir postulieren, dass dieses nicht aus Boshaftigkeit geschieht, sondern aus Faulheit. In einem ordentlich begutachteten Journal nehmen die Gutachter den Mantel der Kritik an. Es ist ihre Aufgabe, Mängel zu entdecken, und oft ärgern wir uns darüber, wenn es sich um unsere eigenen Manuskripte handelt, die kritisiert werden. Wenn die Gutachter sorgfältig ausgewählt werden – und es ist das Metier des Herausgebers, das zu tun – dann ist hier der Ort, an dem die Gutachter glänzen können. Sie berichten uns Arbeiten, die wir übersehen haben, über Arbeiten, denen wir mehr Anerkennung hätten zollen sollen. Sie halten die Ethik des Zitierens aufrecht. Und dass die Autoren ihre Zeichnungen und Diagramme verbessern sollen, darauf achten sie auch. Gebrauch führt zu Missbrauch, das gehört zur conditio humana. Die meisten Zitationssünden sind Unterlassungssünden. Aber es gibt auch bewusste Sünden. Wir vermeiden an dieser Stelle eine ausführliche Diskussion von wissenschaftlichem Fehlverhalten, Fälschung und Plagiarismus.23 Nicht weil wir nicht von ihnen wüssten und nicht, weil sie unwichtig wären. Wir lassen sie unberücksichtigt, weil wir nicht davon abgelenkt werden wollen, zu zeigen, dass richtiges Zitieren wirklich zählt, und dabei helfen wollen, dass die Zitationspraxis vieler Menschen besser wird. Denn, wie Harriet Zuckerman uns schrieb,24 es ist nicht schlecht, Wissenschaftler an diesen Mehltau zu erinnern, der auf unserem Beruf liegt, ganz zu schweigen von seiner offenbaren Zunahme. Wenn das Zitieren unser Thema ist, ist es besonders wichtig, dass wir dem Leser eine Auswahl früherer Gedanken dazu präsentieren. Nicht zuletzt um – neben anderen Dingen – zu demonstrieren, wie unoriginell wir sind… Das werden wir tun – aber jetzt ist die Zeit, zu spezifischen Beispielen vorzudringen. Wir werden uns zunächst mit hypothetischen Strukturen des wohl wichtigsten chemischen Elements beschäftigen: Kohlenstoff. Diamant und Graphit sind seit Jahrtausenden bekannt. Aber es ist gerade einmal 100 Jahre her, dass wir mit Hilfe der Einkristall-Röntgenstrukturanalyse nahezu gleichzeitig die Strukturen und die Maße des kubischen Diamants (1)[25] und des Graphits (2) kennenlernten.26 Graphit ist in hexagonaler und in Bernal-Form bekannt, die durch unterschiedliche Stapelung von dem entstehen, was wir heute Graphenlagen nennen. Hexagonaler Diamant oder Lonsdaleit wurde einige Jahre später beschrieben, wenngleich seine Existenz in neuerer Zeit in Frage gestellt wurde.27 Es wurde schon früh deutlich, dass Diamant und Graphit – wenigstens auf dem Papier – tatsächlich nur die ersten Mitglieder einer Familie von Polytypen sind. Die kleinen Dispersionsenergien, die bei der Aggregation von Graphenlagen auftreten, bedingen eine Anzahl von Stapelungsweisen: AA, AB, ABC usw. Für Diamant, mit seinen starken Bindungen zwischen dem, was wir als horizontale Cyclohexan-artige Schichten wahrnehmen (das ist zum Teil eine Illusion, die sich aus unserer Unfähigkeit ergibt, Schichten und wahre Tetraedersymmetrie zu integrieren; es gibt Cyclohexanringe in Sesselkonfiguration, aber keine ausgeprägten axialen und äquatorialen Bindungen in kubischem Diamant), kann man sich Polytypie gleichfalls vorstellen. Lonsdaleit ist der erste Vertreter einer unendlichen Serie. SiC verköpert sie in der Realität – mit Gewalt. Die Neigung der Menschen zur Brandstiftung kennt keine Grenzen. So kennen wir schon lange eine Vielzahl pyrolytischer Kohlenstoffe, die sich der Strukturbestimmung bisher allerdings entzogen haben. Aus dem Studium eines von diesen, kam 1946 H. L. Rileys Struktur 3,28 vermutlich der erste Vorschlag eines hypothetischen Kohlenstoffallotrops. Struktur 3 besitzt offenkundig eine geringe Dichte und ist verhältnismäßig wenig gespannt. Rileys Kohlenstoff, später "Polybenzol" genannt,29 wird bei hohem Druck keine Chance gegenüber Diamant haben. Aber eines Tages werden Chemiker einen pfiffigen Weg finden, ihn bei Normaldruck herzustellen. Als nächstes Mitglied wirklicher Allotrope kam das Buckminsterfulleren. Ursprünglich nur ein Schimmer in den Augen von Theoretikern (die sich alle gegenseitig nicht zitierten),30 traurigerweise ignoriert, und dann wirklich entdeckt bei Untersuchungen der Kohlenstoffablation in der Gasphase31 und schlussendlich in Substanz hergestellt.32 Heutzutage vergleichsweise preiswert, stellt dieses Molekül das thermodynamisch instabil, aber kinetisch persistent ist, eine wunderbare Verknüpfung von Chemie und Physik dar. Und, natürlich, gibt es die Familie der größeren und ebenso persistenten Fullerene, sowie die Nanoröhren. Wir wollen die Fullerene keineswegs vernachlässigen, aber uns hier doch auf die dreidimensionalen, unendlichen Netzwerke elementaren Kohlenstoffs beschränken. Einer von uns (Roald Hoffmann)33] und Ivan V. Stankevich34 begannen in den frühen 1980er Jahren unabhängig voneinander über Kohlenstoffallotrope nachzudenken. Hier zeigen wir zwei Strukturen, die von der Hoffmann-Gruppe vorgeschlagen wurden: 433 (zusammen mit Tim Hughbanks, Miklos Kertesz und Peter Bird) and 535 (mit Mike Bucknum; weitere Arbeiten über 3,4-verknüpfte Netze mit Ken Merz, Sandy Balaban).36 Wo verfügbar, führen wir fettgedruckte Symbole aus drei Buchstaben für Netze ein (wie von M. O'Keeffe vorgeschlagen)37, hier ths bzw. tfi. Tfi steht für three-four-i, und es gibt auch tfa, tfb usw. Sowohl ths als auch tfi sind in vielen Koordinationsnetzwerken beobachtet worden. Die Netze in Strukturen 1, 2, 3 werden dia, hcb bzw. pbz genannt. Sobald Rechnungen in einer Basis ebener Wellen für ausgedehnte Systeme leicht durchführbar geworden waren, öffneten sich sozusagen die Schleusentore. Rechnergestützte Chemie und Physik auf einem mittleren Niveau waren immer einfacher als das Experiment. Wir haben mehrere hundert Veröffentlichungen gezählt, in denen "neue" Kohlenstoffallotrope vorgestellt wurden. "Neu" in Anführungsstrichen, weil es, wie wir zeigen werden, viele Wiederholungen gab. Und die Titel der Arbeiten, die sie beschrieben, endeten nicht bei "neu" oder "neuartig". Erweiterungen wie "superhart", "erstaunlich stabil" und "existenzfähig" schossen ins Kraut. Wir wollen uns nicht in das hineinziehen lassen, was hier getrieben wird: Reklamerummel.38 Wir beginnen zunächst mit einer von zwei Fallstudien über "Zitationsamnesie" auf dem Gebiet der Kohlenstoffallotrope. Wir tun das nur mit Beklemmung, da die Terminolgie dieses Untergebiets der Festkörperchemie rasch ins Geheimsvolle wächst. Nimmt man die traurige Verschachtelung unserer molekularen Wissenschaften als gegeben an, baut sich bei der Ausweitung in die dritte Dimension dessen, was sich bei näherer Betrachtung als nicht mehr als die einfachsten Bausteine der organischen Chemie erweist, sehr rasch eine Komplexität auf, die unsere Verstandeskraft eintrübt, nicht zuletzt, wenn man auch an die zur Beschreibung der Netzwerke erforderliche Nomenklatur denkt. Uns ist diese Tatsache bewusst, und wir entschuldigen uns beim Leser, dass wir sie Details unterwerfen, die nun einmal zum Verständis unserer Fälle erforderlich sind (oder auch Mertons "Auf den Schultern von Riesen"). Wir verzeihen Ihnen, wenn Sie den folgenden Abschnitt querlesen. Im August 2014, während er mit dem Aufbau einer Datenbank für Kohlenstoffallotrope beschäftigt war, stieß einer von uns (Davide M. Proserpio) auf eine Arbeit in Phys. Rev. Lett., in der ein dreidimensionales Kagome-Gitter (CKL) für elementaren Kohlenstoff vorgeschlagen wurde, zusammen mit einem strukturell ähnlichen, sich durchdringenden Graphennetzwerk (IGN).39 Die Autoren berichteten nicht die Koordinaten – ein Trend, der in der Literatur über hypothetische Kohlenstoffallotrope recht weit verbreitet ist und dazu führt, dass die Resultate nur schwer reproduzierbar sind –, lediglich die Elementarzelle und einige Bindungslängen. Dennoch war offenkundig, dass das beschriebene 4-verknüpfte Netz dasselbe war wie eines, das hcp-C3 genannt worden war und 1999 von P. A. Schultz, K. Leung und E. B. Stechel aus den Sandia National Laboratories vorgestellt wurde.40 Dieses Netz enthält kleine Dreiringe und wurde später in dem Zeolith Nitridophosphat-1 beobachtet und NPO genannt.41 Daher der Netzname npo in der RCSR-Datenbank (6). Durch eine tiefergehende Analyse fanden wir, dass npo bereits 1992 als Netz 36 in Abbildung 2 von M. O'Keeffe in seiner Ermittlung uninodaler Netze mit Dreiringen identifiziert worden war, die wiederum auf J. V. Smith im Jahre 1979 zurückgeht (Netz 94 in seiner Abbildung 7), und beide schon 1977 von A. F. Wells als Abbildung 9.15a und 9.16 in seinem bemerkenswerten Buch beschrieben wurden.44 Die Geschichte beginnt hier erst! Im Jahre 2003 wurde npo als eine hexagonale Kugelpackung 4/3/h3 von Sowa, Koch und Fischer in ihren fortlaufenden Forschungen beschrieben, deren Ziel die vollständige Ableitung aller homogenen Kugelpackungen war und in den 1970er Jahren begonnen wurde.45 In neuerer Zeit (2012) wurde npo als hcp-C3 reexaminiert.46 Zusätzlich lässt sich das strukturell verwandte IGN (siehe oben) auf ein Netz zurückführen, das als 3,4-bik-Cmcm47 bezeichnet und als ZGM-12 beschrieben wurde.48, 49 Tatsächlich konzentrieren sich die Arbeiten über CKL und IGN auf Eigenschaften, die in dem vorangegangenen Bericht über hcp-C3 and ZGM-12 nicht untersucht worden waren, aber wie auch immer… Aber niemand kann sich seiner Sache auf diesem Gebiet sicher sein, denn viele Netzwerke waren bereits bekannt bevor sie als Kohlenstoffallotrope wiederentdeckt wurden. In der Tat wurde in der schon zitierten Veröffentlichung aus dem Jahre 1999 über hcp-C3 über ein raumzentriertes tetragonales Allotrop mit Vierringen als bct-C4 berichtet. Die bibliographische, elektronische Suche war damals viel schwieriger, und P. A. Schultz, K. Leung und E. B. Stechel haben deshalb auch übersehen, dass dasselbe Netz schon früher von R. H. Baughman und D. S. Galvao beschrieben50 und dort als Tetra(2,2)tubulan bezeichnet wurde. Es wurde im übrigen von derselbe Gruppe einige Jahre später erwähnt und dann als R2 bezeichnet.51 Was ist ein Namen? Dasselbe Netz ist auch als "rechteckiger Kohlenstoff" bezeichnet,52 mit korrekter Erwähnung der Arbeiten von Baughman; einfach als "D",53 mit keinerlei Zitaten außer einem zu A. F. Wells' bahnbrechenden Arbeiten (siehe unten); als (2,2)I4/mmm(2)54 ohne spezifische Referenzen. Nach einigen Jahren der Ruhe riss eine wichtige experimentelle Arbeit über kalt komprimierten Graphit die Theoretikergemeinde aus ihrem Schweigen, und die Struktur erschien erneut in zwei Arbeiten im Jahre 2010: im März als bct-C4, mit "echten sp3-Kohlenstoffatomen",56 unter Zitation der Arbeit von Schultz aus dem Jahre 1999 und im Oktober als schlichter "bct-Kohlenstoff", der mit dem lakonischen Satz vorgestellt wurde: "Diese Struktur scheint der in früheren Studien gefundenen ähnlich zu sein." Hierbei wurden die Arbeiten von Schultz (1999) und Strong (2004) zitiert.57 Jetzt setzte ein veritabler Schwall an Publikationen ein, in dem die selben Strukturen erneut berechnet wurden (zusammen mit anderen hypothetischen Strukturen). A
Referência(s)