Artigo Revisado por pares

Interview mit Vladimir Vertlib

2016; Austrian Studies Association; Volume: 49; Issue: 1-2 Linguagem: Alemão

10.1353/oas.2016.0024

ISSN

2327-1809

Autores

Marilya Veteto Reese,

Tópico(s)

German Literature and Culture Studies

Resumo

Interview mit Vladimir Vertlib Conducted by Marilya Veteto Reese 27. Juni 2014 Gästehaus Scheck Salzburg-Aigen, Rennbahnstrasse 11. mvr: Also, erste Frage: Wie siehst du deine Leserschaft? Und was ist für dich eine ideale Leserin (habe ich gesagt, weil ich Frau bin) bzw. ein idealer Leser—oder gibt’s das überhaupt? vv: Nein, so etwas gibt es nicht. Ich will Menschen Freude machen, ich will etwas vermitteln, ich möchte das Bewusstsein für verschiedene Themen wecken, z.B. Migration oder Identität. Aber letztlich ist das alles nur Folie, damit für die Leserinnen oder Leser der Text auch als Spiegel dient. Der Text muss zu ihnen sprechen, in dem Sinn, dass der Text in ihren Köpfen etwas auslöst—was aber natürlich von Person zu Person verschieden ist. Das heißt: ich schreibe meinen Text und ich habe bestimmte Vorstellungen, bestimmte Gründe, warum ich den Text auf eine bestimmte Weise gestalte. Aber wenn das Buch erschienen ist, oder ein Text, jeder Text, einmal publiziert ist—sei es ein Essay oder eine Kurzgeschichte oder ein Roman oder eine Rezension—dann hat es ein Eigenleben. Dann ist die Interaktion zwischen den Leserinnen und Lesern und dem Text wichtig. Ich selbst kann das nicht mehr beeinflus- sen. Und dabei gibt es kein “ideal” oder “nichtideal”. Das Einzige, was mich freut, ist, wenn die Leserschaft damit in irgendeiner Weise etwas anfangen kann. Der Text kann sie irritieren, er kann sie begeistern oder auch abstoßen. Das einzig Ideale daran wäre für mich, wenn die Menschen das, was ich geschrieben habe, überhaupt lesen und sich darauf einlassen. Und sich Gedanken machen. [End Page 91] mvr: Außerdem sagen viele Autoren, dass sie gar keinen Leser im Kopf haben wollen, wenn sie schreiben, nicht wahr . . . hast du überhaupt einen im Kopf, wenn du schreibst? vv: Ich habe schon einen Leser im Kopf, wenn ich schreibe, doch dieser ist so abstrakt, dass ich ihn gar nicht definieren könnte. Es gibt Autorinnen oder Autoren, die tatsächlich konkrete Vorstellungen haben, wie ihre ideale Leserin oder ihr idealer Leser sein könnte, und doch bleibt diese Figur natürlich eine Projektion ihrer selbst. Ich hingegen brauche Distanz, damit die Texte funktionieren. Ich muss also aus der eigenen Betroffenheit bis zu einem gewissen Grade aussteigen können, ohne sie gänzlich zu verlieren. Man kann sich selbst natürlich niemals vergessen, schon gar nicht, wenn man schreibt, obwohl es einige Autoren gibt, die behaupten, sie könnten das, was ich persönlich aber für Humbug halte. . . . mvr: Wann hast du angefangen zu schreiben? vv: Eigentlich recht früh: schon als Teenager. Ich schrieb Tagebücher. Dann Kurzgeschichten. Mein Tagebuch führte ich auf Russisch. Damals war ich 14 und war mit meinen Eltern gerade in den USA. Ein paar wenige Texte habe ich auch auf Englisch geschrieben—Kurzgeschichten. Das Tagebuch ist nach und nach zu einem fiktiven Bericht über die Welt geworden, wie sie vielleicht hätte sein können und nicht wie sie wirklich war, weil die Oberfläche des Offensichtlichen mir bald nicht mehr ausgereicht hat: ich wollte hinter die Oberfläche schauen, die Welt schreibend erkunden. Sie schreibend kennen zu lernen und zu verstehen, war etwas sehr Spannendes. Dabei spielt die Fiktion eine große Rolle, weil sie zwar in der eigenen Fantasie ihren Ursprung hat, dabei aber dennoch eine bestimmte Dimension der Authentizität niemals verliert. Man muss natürlich wissen, wie weit die eigenen Erinnerungen authentisch sind und wann und wo sie einen in die Irre führen. Man kann sich aber auf dieses Spiel einlassen und sagen: “Das ist jetzt eine fiktive Erinnerung, die trotzdem etwas darüber auszusagen vermag, wie es wirklich war. Auch wenn es sich um eine Erfindung handelt, hat sie eine atmosphärische Authentizität. Sie passt zu der Situation, die gezeigt wird, weil ich noch weiß, wie ich mich zu einem bestimmten Zeitpunkt gefühlt habe, in welchem emotionalen Zustand ich gewesen bin, und ich weiß außerdem, wie die Rahmenbedingungen, unter denen ich leben musste, gewesen sind.” Manchmal kann ich mich nur mehr bruchstückhaft an jene Zeit erinnern und [End Page 92] erfinde, wie schon gesagt...

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