Chemieunterricht im Zeitalter des Postfaktischen
2017; Wiley; Volume: 24; Issue: 1 Linguagem: Alemão
10.1002/ckon.201710292
ISSN1521-3730
Autores Tópico(s)Biomedical and Chemical Research
ResumoLiebe Leserinnen und Leser der CHEMKON, für die meisten von uns ist das weltpolitisch aufregende Jahr 2016 rasch vorbeigeflogen. Es war zweifelsohne ein Jahr, das in unseren Köpfen Spuren hinterlassen hat. Es war ein Jahr, in dem dreiste Populisten es geschafft haben, sich mit krassen Unwahrheiten politisch zu profilieren. Und es war das Jahr, in dem der unglückliche Begriff „postfaktisch“ zum Wort des Jahres gekürt wurde. Da fällt es schwer, einfach zur gewohnten Tagesordnung überzugehen, und es stellen sich auch ganz neue Fragen: Haben wir als Chemie-Lehrende dieser problematischen „anti-aufklärerischen“ Entwicklung etwas entgegenzusetzen? Kommt dem naturwissenschaftlichen Unterricht in diesem Kontext eine Bedeutung oder sogar eine Verantwortung zu? Eröffnet die entstandene Betroffenheit gar eine politische Chance, mit guten Argumenten für die „faktenbasierten“ MINT-Fächer in den Schulen zu werben? Wie wir alle wissen, hatte es das Fach Chemie in der Schule noch nie leicht. Gibt es doch trotz aller Erfolge unserer Wissenschaft, trotz einer Fülle exzellenter Informationsquellen und trotz vieler aufwändiger Werbe- und Aufklärungskampagnen seitens Wirtschaft und Akademia noch immer massive Vorurteile in der Gesellschaft gegenüber „der Chemie“. Schon das Wort „Chemie“ ist für viele Menschen angstbehaftet. Seit Jahrzehnten erleben wir die Irrationalität, mit der in der Öffentlichkeit beispielsweise vor „Giftstoffen“ gewarnt oder das „Natürliche“ und das „Synthetische“ in einen wertenden Gegensatz gebracht wird. Nahezu zwei Jahrhunderte nach der Harnstoffsynthese von Friedrich Wöhler scheint der Glaube an eine vis vitalis noch weit verbreitet zu sein. Stellen Sie doch einmal im Kreise Ihrer Freunde und Bekannten die Frage, ob (A) synthetisches oder (B) aus Citrusfrüchten isoliertes Vitamin C gesünder ist. Die Antwort lautet fast immer (B). Was sich hier beobachten lässt, ist eine weitverbreitete Neigung von Menschen, Vorurteile, die oft einem ideologiebehafteten „kollektiven Weltbild“ entspringen, als „Wahrheit“ einzustufen, auch wenn sie mit wissenschaftlich überprüfbaren Fakten nicht in Einklang zu bringen sind. Insofern sind wir es als Repräsentanten der Chemie längst gewohnt, uns mit „Faktenignoranten“ auseinanderzusetzen – und mit Menschen, die sich ihrer (chemischen) Unbildung oft unverhohlen und mit einer lächelnden Selbstgefälligkeit brüsten. Wenn wir etwas ändern wollen, dann müssen wir möglichst vielen jungen Menschen eine chemische Grundbildung mit auf den Weg geben, d. h. eine Vorstellung von der chemischen Natur unserer stofflichen (und biologischen) Umwelt. Diese Bildung baut Ängste ab, stärkt die allgemeine „Lebenssicherheit“ der Individuen, und schafft die Voraussetzung für einen respekt- und vertrauensvollen Austausch mit Fachleuten (Experten), auf deren Kompetenz unsere hochentwickelte Zivilisation angewiesen ist. Und wir wissen, dass es günstig ist, junge Menschen möglichst früh zu erreichen. Die kindliche Neugier und Begeisterungsfähigkeit für faszinierende Phänomene kann ein Türöffner sein. Und ein weiteres Moment, das es zu nutzen gilt, ist die intellektuelle Befriedigung, die entsteht, wenn experimentell reproduzierbare Ergebnisse im Lichte der sie erklärenden Modellvorstellungen zu überprüfbaren „Fakten“ werden. So gelingt es durchaus, allen gesellschaftlichen und politisch-strukturellen Widrigkeiten zum Trotz, jungen Menschen in der Schule einen Zugang zur Chemie zu eröffnen, ihnen solide Fachkenntnisse zu vermitteln, und einige sogar für unsere Wissenschaft zu gewinnen. Aber was können wir tun, um noch einen wesentlich größeren Teil der Schüler und Schülerinnen zu erreichen? Ich bin fest davon überzeugt, dass die wichtigste und entscheidende Voraussetzung für einen überzeugenden und „intellektuell nachhaltigen“ Chemieunterricht hervorragende Chemie-Lehrerinnen und -Lehrer sind. Diese erkennt man nicht nur an einer hohen fachlichen Qualifikation und an guten didaktischen Fähigkeiten (Unterrichtskonzepten), sondern auch an ihrer Freude am Experiment. Ohne eine fachliche Souveränität können Lehrende nicht überzeugen, und für Chemie-Lehrende sollte experimentelles Geschick und die Kompetenz, sicher und angstfrei mit Chemikalien umgehen zu können, ebenfalls zum Handwerkszeug gehören. Ein moderner, experimentell begründeter Chemieunterricht bietet optimale Voraussetzungen, um das Interesse junger Menschen für die Chemie zu wecken und ihnen wichtige Einsichten und Kenntnisse zu vermitteln. Wenn es gelingt, mit Hilfe von Experimenten (und deren Auswertung) naturwissenschaftliche Erkenntnisprozesse exemplarisch nachzuvollziehen, dann kann Chemieunterricht maßgeblich dazu beitragen, den Unterschied zwischen „überprüfbarem Wissen“ und „leichtfertigen Behauptungen“ (Scheinwahrheiten) in den Köpfen zu verankern. Denn wie Bernhard Pörksen kürzlich in der ZEIT treffend feststellte, reicht es heute nicht mehr „aufzuklären, indem man Wissen bereitstellt. Notwendig geworden ist eine Aufklärung zweiter Ordnung, die neben der Vermittlung von Inhalten systematisch auch über die Prozesse ihres Zustandekommens informiert und offensiv für die eigenen Rationalitätskriterien wirbt.“ (www.zeit.de/2016/52/wissenschaft-postfaktisch-rationalitaet-ohnmacht-universitaeten) Ich meine, wir sollten den „Pörksen'schen Imperativ“ ernst nehmen und den Chemieunterricht als Chance begreifen, den „postfaktischen“ Tendenzen in unserer Gesellschaft gutgelaunt und selbstbewusst entgegenzutreten. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gutes und erfolgreiches Jahr 2017. Hans-Günther Schmalz ist Professor für Organische Chemie an der Universität zu Köln und der Vorsitzende der Fachgruppe Chemieunterricht.
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