Artigo Revisado por pares

Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne ed. by Jürgen Brokoff et al.

2017; German Studies Association; Volume: 40; Issue: 1 Linguagem: Alemão

10.1353/gsr.2017.0024

ISSN

2164-8646

Autores

Rolf J. Goebel,

Resumo

Reviewed by: Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne ed. by Jürgen Brokoff et al. Rolf J. Goebel Norbert von Hellingrath und die Ästhetik der europäischen Moderne. Edited by Jürgen Brokoff, Joachim Jacob, and Marcel Lepper. Göttingen: Wallstein, 2014. Pp. 407. Cloth €49.90. ISBN 978-3835313101. Wenn es die größte Auszeichnung eines Gelehrten sein mag, dass sich sein wissenschaftliches Werk über die Analyse des Untersuchungsgegenstands weit hinaus als Sprachrohr, Spiegel und Katalysator von mannigfaltigen Zeitströmungen erweist, dann gilt es, Norbert von Hellingrath (1888–1916) als zentrale Geistesfigur der klassischen Literaturmoderne seit 1900 zu entdecken. Verfasser einer Dissertation über Friedrich Hölderlins Pindar-Übertragungen (1911) und enthusiastischer Wiederentdecker des Spätwerks Friedrich Hölderlins ab 1800, entriss er diese Texte dem historischen Vergessen und der Pathologisierung als Verfallserscheinung des geistig Umnachteten. Hellingrath legitimierte Hölderlins Werke als eine die Schranken der klassisch-romantischen Ästhetik radikal durchbrechende Wortkunst, die er als Neuschöpfung griechisch-antiker Ausdruckskraft, als göttliche Verkündigung und vaterländische Weissagung pries. Seit 1913 wirkte Hellingrath als unermüdlicher Initiator und Teilherausgeber einer wegweisenden historisch-kritischen Ausgabe, die philologische Genauigkeit mit dem Ziel vereinte, Hölderlin nicht (allein) als historische Vergangenheitserscheinung, sondern als für das Schicksal des deutschen Volkes maßgebenden Zeitgenossen zu feiern. Der widerspenstige, sich mit dem seherischen Irrsinn seines Lieblingsdichters als intellektuelle Inspirationsquelle identifizierende Forscher wurde aus der wissenschaftlichen Versessenheit jäh in den Ersten Weltkrieg gerissen, wo er, aus einer Offiziers- und alten Fürstenfamilie stammend, im Alter von erst 28 Jahren nach anfänglicher Militärskepsis scheinbar furchtlos im Granatfeuer der Schlacht vor Verdun fiel. All dies und anderes trägt zu einer einzigartigen Biographie bei, die gleich nach Hellingraths Tod zum verklärenden Mythos vorherbestimmt schien. Es ist dieses in seiner brutalen Kürze ungemein reich- und nachhaltige Forscherleben, das die Beiträger des vorliegenden Bandes auf seine vielfältigen Verflechtungen [End Page 202] mit wissenschaftlichen Paradigmen, literarischen Tendenzen und herausragenden Einzelpersönlichkeiten der Zeit hin transparent machen. Durch beispielhaft genaue Archivrecherchen, kritische Auswertung des zum Teil unveröffentlichten Materials und kenntnisreiche Verortung im historisch-kulturellen Umfeld gelingt es den Verfassern, Hellingrath als die wissenschaftliche Verkrustung der Zeit aufbrechende Stimme darzustellen, die sich emphatisch auf Hölderlins Anspruch auf dichterische Verkündigung gründete (Kurt Wölfel) und durch persönliche Bekanntschaften und den schnell sich verbreitenden Forscher-Elan auf breites Echo bei den geistigen und künstlerischen Größen der Zeit stieß. Von den Affinitäten zum russischen Symbolismus, Futurismus und Formalismus (Aage A. Hansen-Löve, Jürgen Brokoff) über Walter Benjamins Übersetzungs- und Dichtungstheorie (Rainer Nägele) bis zu Hugo v. Hofmannsthal, Theodor Lipps und Wilhelm Dilthey (Joachim Jacob) reicht der gründlich dokumentierte Horizont. Dabei wird Hellingraths durchaus zwiespältiger Haltung zu Stefan George und Umkreis, besonders zu Karl Wolfkehl, Friedrich Gundolf und Ludwig Klages zu Recht viel Raum gegeben (Ute Oelmann, Birgit Wägenbaur, Francesco Rossi). Georges Standort zwischen Hölderlin und Hellingrath umkreist ein einleitendes Gespräch (Bernhard Böschenstein, Ulrich Raulff, Jürgen Brokoff). Nach anfänglich zwiespältiger Haltung gegenüber George als Sprachtechniker und Vertreter der Dekadenz unterwarf sich Hellingrath, wie Ute Oelmann zeigt, der ihn an Pindar erinnernden, herben Schlichtheit der Georgeschen Dichtung und ihrer ihm göttlich erscheinenden Macht. Hölderlins Scheitern an der Aufgabe, dem Volk das Göttliche dichterisch zu spenden, kennzeichne in Hellingraths Augen auch Georges Einstehen für ein “letztmögliches Gelingen von Kunst” in der Moderne kennzeichne (157). Dem “kauzige[n] Philologe[n]” näherte sich der Meister allerdings eher distanziert (155), obwohl Hellingraths Edition Georges Bild von Hölderlin als Seher eines Mythos geschichtlichen Neuanfangs und göttlicher Verkündigung entscheidend prägte (Wölfel, 121–122). Höchst gespalten und problematisch ist, wie Jörg Schuster deutlich macht, auch die Konstellation Hölderlin—Hellingrath—Rilke. In Rilke sah sich Hellingrath geradezu “verliebt wie ein kleines Mädchen” (192), und der Dichter wies nach den Neuen Gedichten hymnische Stilzüge der “harten Fügung” auf (194). Andererseits aber trägt Hellingraths Hölderlin-Sakralisierung auch zu Rilkes fataler Verbindung eines “pathetischen Kriegsgesang[s]” mit dem “Problem einsam-erhabenen Dichtertums” bei (201). Von Pindar bis...

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