Artigo Acesso aberto Revisado por pares

Maria Sibylla Merian (1647-1717)

2017; Wiley; Volume: 47; Issue: 1 Linguagem: Alemão

10.1002/biuz.201710610

ISSN

1521-415X

Autores

U. Kutschera,

Tópico(s)

Historical Legal Studies and Society

Resumo

Maria Sibylla Merian (1647–1717) erlangte als Insekten- und Blumen-Malerin zu Lebzeiten europaweit Ruhm, obwohl sie als geschiedene, alleinerziehende Mutter in einer von Männern dominierten Welt mit Vorurteilen konfrontiert war. In diesem Beitrag werden Leben und Werk dieser in Frankfurt/Main geborenen Entomologin basierend auf einer Analyse ihrer Fachbücher im Zusammenhang mit den Leistungen von Darwin, Wallace, Haeckel und Weismann vorgestellt. Merian hat an 186 Insekten- und einigen Amphibien-Arten den gesamten Lebenszyklus dokumentiert beziehungsweise gezeichnet, und damit die Aristoteles'sche Urzeugungs-Hypothese wiederlegt. Da Merian erstmals Tier-Pflanzen-Interaktionen studiert hat, sollten wir sie zum 300. Todestag (13.01.2017) als Pionierin der Entwicklungsbiologie und Ökologie würdigen. Maria Sibylla Merian (1647–1717): Pioneer of developmental biology and ecology Maria Sibylla Merian was an extraordinary women who transformed not only the art of scientific illustration, but also made substantial contributions to the emerging discipline of organismic biology. Like Darwin, Wallace, Haeckel and Weismann, Merian developed her skills for scientific observation (butterflies, moths) and drawing (animals, plants) at an early age, and became, despite being a divorced single mother, famous in a male-dominated German-Dutch society. Here, her neglected achievements as pioneer of developmental biology and ecology (animal-plant-interactions) are described, with a focus on Merian's elucidation of the life cycles of 186 insect species and that of several amphibians. Based on her experimental results, summarized in three published monographs, Merian refuted the Aristotelian idea of ”spontaneous generation“. Three hundred years after her death (13. Jan. 2017), we should appreciate Merian's outstanding scientific discoveries and biological insights. Die deutsch-niederländische Künstlerin und Insektenforscherin Maria Sibylla Merian starb, völlig verarmt, vor 300 Jahren in Amsterdam. Eine Analyse der Originalwerke dieser genialen Frau zeigt, dass Merian, über ihre entomologischen Leistungen hinaus, auch für ihre Verdienste in der Entwicklungsbiologie und Ökologie gewürdigt werden sollte. Nach 300 Jahren wäre es angemessen, dieser Autodidaktin der Life Sciences, die sich als geschiedene, allein erziehende Mutter im 17. Jahrhundert durchsetzen musste, einen Ehrenplatz in der Geschichte der Biologie einzuräumen. Maria Sibylla Merian kam mit einer seltenen Doppel-Begabung zur Welt. Als Künstlerin und kreative Naturforscherin musste sie sich in einem beruflichen Umfeld durchsetzen, in dem die Schlüsselpositionen noch weitgehend von Männern besetzt waren. Dennoch konnte sich die Hessin gegen zahlreiche Vorurteile und Widerstände behaupten und zu einer weltbekannten „naturkundelnden” Blumen- und Tierzeichnerin aufsteigen 1. In diesem Beitrag zum 300. Todestag der verkannten Biologin (13. Januar 2017) wollen wir zunächst den Lebenslauf von Merian beschreiben, um dann ihre Leistungen im Lichte der modernen Biowissenschaften neu zu bewerten. Merians Verdienste als Vorläuferin der erst im 19. Jahrhundert etablierten Disziplinen Entwicklungsbiologie und Ökologie werden im Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen (Abbildung 1). Blumenkranz mit Raupe, Kupferstich von Maria Sibylla Merian aus dem Jahr 1679. Am 2. April 1647 wurde dem in Frankfurt a. M. ansässigen Ehepaar Matthäus Merian der Ältere (1593–1650, schweizerisch-deutscher Künstler, Verleger und Kupferstecher, damals 54 Jahre alt) und seiner zweiten Frau, Catharina Johanna Sibylla (ca. 1620–1690) eine Tochter geboren, die auf den Namen Maria Sibylla getauft wurde (Abbildung 2). Der kränkliche Vater, ein bekannter Künstler, starb bereits drei Jahre später, und Sibyllas junge, verwitwete Mutter heiratete bald darauf den Blumenmaler Jacob Marrel (1614–1681). Dieser lebte gelegentlich in Frankfurt, war aber hauptberuflich in Utrecht (Niederlande) als Kunsthändler tätig 1. Obwohl Marias angeborene künstlerische Begabung bald zum Vorschein kam, hatte ihre neu verheiratete Mutter wenig Verständnis für diese damals als „maskulin” angesehene Malertätigkeit. In einer Dachkammer kopierte die begabte Tochter, aus innerem Drang heraus, bekannte Kunstblätter und fertigte bald eigene Werke an. Glücklicherweise erkannte aber der Stiefvater, Jacob Marrel, Maria Sibyllas außergewöhnliche Begabung und förderte sein Adoptivkind nachhaltig. Bereits im Alter von elf Jahren konnte Maria eigenständig Kupferstiche anfertigen und war bald darauf ihrem Lehrer, einem Schüler des Stiefvaters, künstlerisch überlegen. Die akribisch erstellten Jugend-Blumenbilder vervollkommnete die junge Frankfurterin durch hinzugefügte Insekten-Zeichnungen (Käfer, Schmetterlinge usw.), sodass eindrucksvolle, künstlerisch eigenständige Gesamt-Naturdarstellungen entstanden sind 2, 3. Von ihrem zwölften Lebensjahr an begann Maria damit, Seidenraupen und andere Insekten in entsprechenden Gefäßen zu hältern, sodass sie bald eine private Raupen- und Käferzucht pflegte. Ähnlich wie Charles Darwin, Alfred Russel Wallace, Julius Sachs, Ernst Haeckel und August Weismann 4-8 begann Maria Sibylla somit in früher Jugend mit einer aus innerem Antrieb motivierten Erkundung der belebten Natur, welche sie, bedingt durch christlich-religiöse Erziehung, als Schöpfung des biblischen Gottes interpretierte. Wenige Wochen nach ihrem 18. Geburtstag (Mai 1665) wurde Maria Sibylla mit dem Nürnberger Zeichenlehrer und Künstler Johann Andreas Graff (1636–1701), einem Mitarbeiter von Marrel, verheiratet. 1668 kam die erste Tochter, Johanna Helena, und zehn Jahre später ein zweites Mädchen (Dorothea Maria) zur Welt. Von 1670 an lebte die Familie in Nürnberg, wo die junge Mutter zum spärlichen Haushaltseinkommen des unzuverlässigen, vergnügungssüchtigen Gatten beitragen musste. Als Frau war es Maria Sibylla damals verwehrt, Ölfarben-Leinwandgemälde anzufertigen – dieses ertragreiche Geschäft blieb den Nürnberger Männern vorbehalten. Sie betrieb einen Malzubehör-Handel und fertigte kleine Auftrags-Kunstwerke für die Wohlhabenden an. Weitere Einnahmen konnten aus Privatunterricht erzielt werden (Unterweisung im Blumenmalen und Sticken). Diese Lehrtätigkeit hat zu einer ersten Buchveröffentlichung geführt. Ein von Merian in drei Teilen herausgegebenes Neues Blumenbuch (erschienen 1675, 1677 und 1680) wurde in geringer Auflage vertrieben und hatte den Charakter einer Musteranleitung für die stickende Nürnberger Damenwelt. Es folgte Merians zweiteiliges Raupen-Buch (1679, 1683) (Abbildungen 3 und 4), auf welches wir im nächsten Abschnitt eingehen werden. Die hessische Künstlerin und Biologin Maria Sibylla Merian (1647–1717) in jüngeren Jahren. Bild: unbekannter Künstler, 17. Jahrhundert. Unkoloriertes Titelbild von Merians erster Monographie zur Biologie und Ökologie ausgewählter Insekten Europas (Teil 1). Das unter dem Titel „Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumen-nahrung” im Jahr 1679 erschienene Werk trägt die Autorschaft „Maria Sibylla Gräffin, geb. Merianum”. Die Autorin war zu diesem Zeitpunkt noch mit Johann Andreas Graff (1636–1701) verheiratet, der das Buch im Selbstverlag veröffentlichte. Unkoloriertes Titelbild vom zweiten Teil von Merians Monographie zur Biologie und Ökologie ausgewählter Insekten Europas. Im Alter von 38 Jahren verließ Maria Sibylla gemeinsam mit ihrer Mutter und den beiden damals 7 und 17 Jahre alten Töchtern ihren Mann in Nürnberg und lebte als alleinerziehende Mutter in den Niederlanden. Als Ursache der Trennung von ihrem Ehegatten (der seine davongelaufene Frau zurückhaben wollte) werden unakzeptable Verhaltensweisen dieses egoistischen und geselligen Mannes angenommen. Zunächst übersiedelte das Nürnberger „Frauen-Quartett” nach Friesland, um dort, vermittelt durch einen Verwandten, auf Schloss Walta-State bei Wieuwerd einer protestantischen Sekte (Labadisten) beizutreten. In dieser Gemeinschaft streng gläubiger Christen, benannt nach deren Gründer, dem französischen Pietisten Jean de Labadie (1610–1674), fühlte sich Maria Sibylla nicht wohl, mit der Konsequenz, dass sie in späteren Jahren ihren religiösen Glauben neu bewertete (sie interpretierte die von „Gott ins Dasein gesetzte Natur” rein faktenbasiert, s. Abbildung 8 und 9). Merian nutzte aber die dortigen Vorzüge für ihr berufliches Weiterkommen gezielt aus. Die exotischen Falter einer auf Schloss Walta-State deponierten Sammlung aus der niederländischen Kolonie Surinam (Südamerika) dienten als Modelle für neue Serien origineller Zeichnungen; ihren Töchtern vermittelte die fleißige Wahl-Niederländerin eine solide künstlerische Ausbildung. Nach dem Tod von Merians Mutter verließ sie mit ihren beiden Töchtern die Labadisten, um ab 1691 in Amsterdam zu leben. Die gescheiterte Ehe mit Johann Andreas Graff wurde auf Gesuch des Gatten in Nürnberg geschieden (August 1692). Der Ex-Ehemann heiratete daraufhin bald erneut, während Maria Sibylla Merian keine neue Partnerschaft eingegangen ist. Kupfertafel aus M. S. Merians Werk „Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumen-nahrung” (Teil 1, 1679). In diesem Bild sind ein männliches und ein weibliches Individuum des Seidenspinners Bombyx mori mit Eiern, Kokons, einer Puppe und Raupen abgebildet (obere Reihe). Rechts unten sind Eier sowie junge und ältere Raupen dargestellt. Wirtspflanze: Weißer Maulbeerbaum (Morus alba), ausgewachsenes Laubblatt und Zweig mit Früchten. Kupfertafel aus M. S. Merians Werk „Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumen-nahrung, Anderer Theil” (1683). In diesem Bild ist der blaue Märzenpfeil (Viola Martia purpurea) dargestellt, in heutiger Terminologie Purpur-Veilchen genannt (Viola purpurea Kellogg). Im Text geht Merian auf die Tiere ein und betont, dass hier die „nutzbarsten Bienen” (Apis mellifera) dargestellt sind. Titel von M. S. Merians Hauptwerk „Metamorphosis Insectorum Surinamensium” (1705). Das mit 60 Tafeln ausgestattete Werk wurde von der Autorin im Eigenverlag vertrieben, leider ohne großen Gewinn; es brachte ihr aber Ruhm und Ehre. Ein geplanter Folgeband mit wertvollen unpublizierten Zeichnungen und Beobachtungen konnte mangels Nachfrage zu Lebzeiten der Autorin nicht erscheinen. Diese Tafel aus Merians „Metamorphosis Inscectorum Surinamensium” (1705) zeigt eine Raubspinne, die einen Kolibri erbeutet hat. Diesem Bild zufolge wurde die betreffende Gliedertier-Gruppe später als „Vogelspinnen” bezeichnet. Zeitgenossen zweifelten an der Korrektheit der Darstellung. Etwa einhundert Jahre später konnte Alfred Russel Wallaces Kollege, Henry W. Bates (1825–1892), die Spinnen beim Jagen und Erlegen bzw. Fressen von Kleinvögeln beobachten. Das Bild von Merian wurde nach dem Tod der Autorin als naturgemäße Darstellung anerkannt. Tafel aus Merians „Metamorphosis Inscectorum Surinamensium” (1705). Die Biologin war die erste europäische Forscherin, die ein Bild der Wabenkröte (Pipa pipa) zeichnete und damit diese einmalige Amphibienart bekannt machte. Es zeigt ein weibliches Wabenkröten-Exemplar mit Kaulquappen und Jungtieren, die im Zusammenhang mit dem komplexen Brut pflegeverhalten vom Weibchen auf dem Rücken umhergetragen werden, bevor sie das Muttertier verlassen. Die 45-jährige war in der damals weltoffen-liberalen Stadt Amsterdam, unterstützt von ihren Töchtern, als Künstlerin tätig und knüpfte Kontakte zum dortigen Botanischen Garten sowie zu einflussreichen Bürgern dieser Weltstadt. In dieser Zeit reifte der Plan heran, als Forschungsreisende selbst nach Surinam zu gehen, um die noch weitgehend unerkundete Tier- und Pflanzenwelt an lebendigen Objekten studieren zu können. Nachdem Merian 1699 vor einem Amsterdamer Notar ein Testament abgelegt hatte (die beiden Töchter wurden ihre Universalerben), und einen Großteil ihrer Bilder gewinnbringend veräußern konnte, brachen die 52-Jährige und ihre jüngere Tochter nach Südamerika auf. Aufgrund der enormen künstlerischen Leistungen von Merian war man in Amsterdam bereit, diese erste große Erkundungsreise einer Naturforscherin durch ein Stipendium zu fördern 1. In Surinam konnte das Mutter-Tochter-Forscherteam bei einer lokalen Pietisten-Gemeinde wohnen, um regelmäßig die tropischen Urwälder zu erkunden. Während dieser zweijährigen Exkursions- und Forschungstätigkeit sammelten die Merians unzählige tropische Insekten, Reptilien und Pflanzen und fertigten originelle Lebendbilder an. Maria Sibylla Merian unterteilte die gesammelten Schmetterlinge in „Kapellen” und „Eulen”, eine Klassifizierung, die bis heute erhalten geblieben ist (Tag- und Nachtfalter). Die 54-jährige erkrankte jedoch wiederholt intensiv an Malaria; daher musste sie mit ihrer Tochter im September 1701 wieder nach Amsterdam zurückreisen (ursprünglich waren fünf Tropenjahre geplant). In ihrer Wahl-Heimatstadt wurde die umfassende Tier- und Pflanzensammlung der Merians in gut besuchten Ausstellungen bewundert. Nach einer dreijährigen Bearbeitungszeit erschien 1705 das auf Originalskizzen und mitgebrachtem Tier- und Pflanzenmaterial basierende, 60 Kupferstiche umfassende Hauptwerk von M. S. Merian, Metamorphosis insectum Surinamensium, auf das noch eingegangen wird. Die Einnahmen aus Buchveröffentlichungen reichten jedoch nicht aus, sodass Merian, wie früher in Nürnberg, als Privatlehrerin der Malkunst und Händlerin ein bescheidenes Leben führte. Nach und nach verkaufte sie ihre exotischen Präparate an wohlhabende Privatsammler, aber dieser Bestand ging bald zur Neige. Im Jahr 1715 erlitt die damals 67-Jährige einen Schlaganfall und war an einen Rollstuhl gefesselt. Am 13. Januar 1717 verstarb Maria Sibylla Merian im Alter von 69 Jahren völlig verarmt in Amsterdam. Für ihre Beerdigung war kein Geld vorhanden, sodass die geniale Künstlerin und Biologin in einem anonymen Armengrab beigesetzt werden musste, das nicht mehr auffindbar ist 1-3. Um die wichtigste naturwissenschaftliche Leistung von M. S. Merian würdigen zu können, müssen wir nachfolgend auf das damals weitgehend akzeptierte Prinzip der Entstehung der Lebewesen aus verwesendem Material eingehen. Obwohl es frühere Denker gegeben hat, die sich mit den Organismen und deren Beziehungen zur Umwelt befasst haben, besteht kein Zweifel, dass der griechische Philosoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) als „erster Biologe” bezeichnet werden sollte. Ein Großteil der Schriften dieses originellen Denkers sind der Spezies Mensch sowie den Tieren und Pflanzen gewidmet, wobei der Autor in aller Regel eigene Beobachtungen anführt, aber auch immer wieder Volkslegenden in seine theoretischen Betrachtungen einfließen lässt. Während Aristoteles bezüglich des Menschen sowie anderer Vierbeiner nicht an eine „Entstehung aus der Erde” glaubte, schloss er sich bei den „niederen Tieren” dem damaligen Wunderglauben an. Der Philosoph argumentierte in etwa wie folgt: Bei all jenen Insekten, Würmern usw., bei welchen das Geschlechtsleben (Paarung, Eiablage) unbekannt ist, müsse man auf eine „spontane Entstehung” aus Erde, zerfallendem Dung, dem Fleisch verendender Wirbeltiere usw. schließen. Auch eine Entstehung aus altem Wachs, verrottendem Papier, gebrauchtem Waschwasser, dem Schleim algenreicher Gewässer usw. wurde als Möglichkeit erachtet. So wurde zum Beispiel auch argumentiert, dass aus dem zerfallenden, toten Körper von Pferden „nutzlose Aasfliegen” und anderes „Ungeziefer” hervorgehen solle. Aus heutiger Sicht absurd erscheint insbesondere die damalige Vorstellung, junge Bienen würden spontan aus Blütenblättern entstehen, ein Glaube, der bis in das späte 17. Jahrhundert verbreitet war. Kurz gesagt, in all jenen Fällen, bei welchen Naturforscher keine sexuelle Fortpflanzung mit Eiablage beobachten konnten, schlussfolgerte man im Sinne des Aristoteles, dass eine „spontane Urzeugung” aus Schlamm, Schleim, zerfallendem Holz usw. eine akzeptable Erklärung sei (auch Egel und Schnecken sollten auf diese Art und Weise sprunghaft aus feuchtem Material hervortreten, und später wieder vergehen) 9. Diese Aristoteles'sche Idee einer spontanen „Ungeziefer-Entstehung” war allgemein akzeptierter „Kenntnisstand”, als Maria Sibylla Merian ihr erstes biowissenschaftliches Buch verfasste, obwohl Francesco Redi (1626–1679) im Jahr 1668 erstmals experimentell nachgewiesen hatte, dass Aasfliegen nicht spontan aus verwesendem Fleisch hervorgehen können. In ihrem Raupen-Buch (1679; Band 2 1683) ging die Biologin auf die Aristoteles'schen Thesen ein und argumentierte geschickt und differenziert, wie es dieser kreativen Denkerin angemessen war. 1679, als Maria Sibylla Merian 32 Jahre alt war, erschien Teil 1 ihres ersten wissenschaftlichen Buchs mit dem Titel Der Raupen wunderbare Verwandelung und sonderbare Blumennahrung im Selbstverlag (Nürnberg, 1679) 10. Teil 2 ist vier Jahre später im Druck erschienen, das Surinam-Buch folgte 1705 11, 12. In einem dem Haupttext vorgestellten „Lobgedicht” hebt ein Autor (C. Arnold) die besonderen Leistungen von Merian hervor und begründet, warum eine Frau ein derartiges Werk in den Druck gegeben hatte: „Es ist Verwunderns werth, daß ihnen auch die Frauen dasjenige getrauen zu schreiben, mit Bedacht, was der Gelehrten Schaar so viel zu thun gemacht. Was Gesner, Wotton, Penn und Mufet überlassen in Schriften zu verfassen; das hat dir, Engelland, mein Teutschland nachgethan, durch kluge Frauen-hand. … daß ihnen eine Frau gleich zu thun begehrt. Was Swammerdam verspricht, was Harvey einst verloren, kommt jederman zu Ohren; daß ein kunstreiches Weib diß alles selbst geleistet, zu ihrer Zeit-vertreib. … (die) werthe Merian!” Dieser „Lobgesang” auf Maria Sibylla Merian ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen belegen diese Zeilen, dass die junge Naturforscherin u. a. mit dem Schweitzer Urvater der Zoologie, Conrad Gesner (1516–1565), sowie den berühmten Naturwissenschaftlern Jan Swammerdam (1637–1680) und William Harvey (1578–1657) auf eine Stufe gestellt wurde. Zum anderen geht aus diesen Sätzen hervor, dass man im 17. Jahrhundert gewisse Vorbehalte gegen „die Frau” als eigenständige Naturforscherin hegte, aber große Leistungen dennoch anerkannte. Es war also nicht so, wie heute oft behauptet wird: Die Verdienste einer begabten Nachwuchs-Wissenschaftlerin vom Range einer Merian respektierten die Männer des 17. Jahrhunderts sehr wohl. In ihrer kurzen „Einführung” zur Raupen-Monographie mit dem Titel „Hoch-werther Kunst-liebender Leser” fasste die Autorin die wesentlichen Resultate ihrer Insekten-Studien zusammen. Trotz ihrer nahezu 20-jährigen Erfahrung als eigenständige Insektenforscherin verwies die 32-jährige Merian auf die damals üblichen Preisungen des „allmächtigen Schöpfergottes”. An entscheidender Stelle steht jedoch das folgende Bekenntnis: Die Autorin hat sich unter großer Mühe die enorme Arbeit gemacht, alle Tiere und Pflanzen „mit höchster Sorgfalt nach dem Leben abzubilden”. Sie habe weiterhin „mit wolgeleister Hülfe meines Eheliebsten, dero nach dem Leben abgemahlte Speisen” hinzu gefügt. Offensichtlich war ihr Ehemann bei dieser Arbeit behilflich und hat auch für den Druck ihres Werkes gesorgt. Als „Speisen” bezeichnet Merian jene Landpflanzen, die von den Raupen bevorzugt gefressen werden. Als generelle Schlussfolgerung lesen wir bei Merian (1679) den folgenden bemerkenswerten Satz: „… daß insgemein alle Raupen aus ihrem Samen, so die Vögelein zuvor gepaart, hervorkommen; welcher in der Form eines Hirskörnleins, und die Räuplein anfangs so klein, daß man sie kaum sehen kann.” Hier vermutlich erstmals in der Geschichte der Biologie, dargelegt, dass sich die Schmetterlinge beziehungsweise Nachtfalter als geschlechtsreife Adult-Tiere paaren müssen, um dann, nach Eiablage, über Raupen-Ausbildung usw. ihren Entwicklungszyklus vollenden zu können. Damit hatte Merian (1679) die Urzeugungs-Hypothese, unter Berücksichtigung zahlreicher Insektenarten, experimentell widerlegt (der italienische Naturforscher Redi hatte 1668 nur eine Insektenart, als „Aasfliegen” bezeichnet, untersucht). In diesem Zusammenhang merkte Merian jedoch an, dass gewisse, für den Menschen damals als Schädlinge erachtete Tiere gemäß dem Aristoteles'schen Prinzip spontan entstehen können: „Die Maden oder Würmer hingegen haben mehrentheils ihren Ursprung aus faulen Raupen oder anderem Kot, auch aus der Raupen Unrat; … (sie) spinnen sich bald ein, und verändern sich in braune Eier, woraus hernach allerlei Fliegen werden.” Diese Zitate belegen, dass die Biologin für alle jene Insekten, die sie selbst im Detail studiert und gezeichnet hatte, eine „natürliche Entwicklung” über Paarung, Eiablage, Schlupf der Raupen, Verpuppung und Hervortreten der Imago-Form postulierte. Alle anderen „niederen Lebewesen”, mit welchen sich die Naturforscherin nicht eigenständig befassen konnte, interpretiert sie im damals üblichen Aristoteles'schen Sinne (Entstehung über obskure Urzeugungs-Akte). Im „Vorwort” zu ihrem Raupen-Buch legt die Autorin M. S. Merian akribisch dar, wie man als Entomologe den Entwicklungszyklus verschiedener Arten bei Hälterung der Tiere in Gläsern studieren kann. Sie beschrieb die Fütterung mitden folgenden Worten: „Nicht weniger hab ich auch beobachtet, daß man solche (Vögelein) mit Zucker ziemlich erhalten könne, indem sie denselben, oder auch somit andere Süßigkeiten, mit ihrem langen Schnabel, welchen sie vorn, zwischen den Augen, sehr scheinbarlich haben, herausziehen” 10. Mit diesem Hinweis ist 1679 ein Verfahren zur Fütterung von Nacht- und Tagfaltern publiziert worden, wobei die Autorin auch die Entwicklungsdynamik darlegt („nach ihrem ersten Wachstum werden sie weder größer noch kleiner”). Zur Ökologie dieser geflügelten Insekten schrieb die Autorin das Folgende: „Belangend den Ort, so halten sich die Sommer- und Motten-Vögelein gerne bei denen Kräutern, Blumen oder Früchten auf, die ihre Speise sind; damit sie ihren Samen bald wieder darauf legen können” 10. In moderne Sprache übersetzt, wird dargelegt, dass die Tag- und Nachtfalter bevorzugt auf jenen Blättern, Blüten und Früchten sitzen, von welchen sie sich ernähren; dort findet nach Merian (1679) auch die Eiablage statt 10. Nachfolgend wollen wir ein repräsentatives Beispiel aus dem Raupen-Buch (1679) vorstellen, um die für die damalige Zeit neuartige naturwissenschaftliche Beobachtungsweise der Autorin darzulegen. In diesem Abschnitt soll exemplarisch dargelegt werden, warum wir Maria S. Merian einen Ehrenplatz im Kreise großer Biologen einräumen sollten. Als erstes Beispiel in ihrem Raupen-Buch 10 beschreibt Merian ausführlich die vermutlich bis heute bekannteste Insektenart, deren domestizierte Form dem Menschen seit ca. 5.000 Jahren zur Gewinnung von Seidengarn dient 13. Unter der Überschrift „Maulbeer-Baum samt Frucht – Morus cum fructu” beschreibt die Biologin in vielen Details nicht nur die wichtigste Wirtspflanze des Seiden- oder Maulbeerspinners (Bombyx mori), sondern auch den gesamten Entwicklungszyklus dieser Schmetterlingsart. Detailgenau beschreibt Merian das in unserer Abbildung 5 dargestellte Zusammenleben dieser domestizierten Schmetterlinge mit dem Maulbeerbaum (Morus alba L. 1753). Die Autorin geht auf die Eiablage der Insekten ein und legt dar, dass man durch eine Kältebehandlung das Schlüpfen der Eier herauszögern könne. Der Unterschied der Geschlechter (Sexual-Dimorphismus) wird bei der Biospezies B. mori von Merian (1679) wie folgt beschrieben: „Das Männlein ist subtiler, und kleiner, als das Weiblein; und hat einen dickern, das Männlein aber einen dünnern Leib. So bald sie nun ihre Stärke überkommen, so paaren sie sich, und legen noch selbigen Tags, oder den Tag darnach, und so fort etliche Täge, gelb-runde Eylein, wie die Hirschkörnlein, und sterben alsdann die Vögelein” 10. In diesem Merian-Kupferstich (Abbildung 5), sind die Unterschiede der Geschlechter im obersten Bildpaar präzise wiedergegeben, wobei das rechts oben abgebildete Weibchen während der Eiablage zu sehen ist. Auch die Feinstruktur der Eier wurde von Merian detailreich beschrieben: „Auf jedem Eylein ist ein kleines Pünktlein, welches bräunlich scheint. Man kann auch bald erkennen, ob etwas nutzbars von ihnen ausschlieffen möchte; sofern sie eingefallen, eingedruckt, oder wie leere Hülsen scheinen, so kömt nichts hervor; denn sie sind verdorben.” In diesem Satz wird dargelegt, dass nur feste, runde Eier Embryonen enthalten, die schlüpfen werden; eingefallene Eihülsen bringen keine Nachkommen hervor und sind möglicherweise von Krankheitserregern befallen (heute wissen wir, dass es sich hierbei in der Regel um unbefruchtete Eier handelt). Nachfolgend beschreibt die Autorin, vermutlich erstmals in der Geschichte der Insektenkunde, das Prinzip der Entwicklungshemmung durch Temperaturerniedrigung. Möchte der Experimentator das Schlüpfen der Eier verzögern beziehungsweise fördern, so „hebt man sie an einem kalten, sonst aber an einem warmen Ort auf; oder man stellt sie in die Sonne … so kriechen die Würmlein aus den gemeldten Pünktlein hervor, die sich, als gezeitigte, selbsten heraus beissen.” Mit diesen Worten ist das aktive Schlüpfen der mit Kauwerkzeug versehenen jungen Raupen beschrieben. Gemäß dem Erfahrungsbericht von Merian fressen die geschlüpften Raupen Salat, aber nasse Blätter sollten nicht zugegeben werden, denn bei hoher Luftfeuchtigkeit sterben die Raupen ab. Blätter vom roten und weißen Maulbeerbaum werden in einem späteren Stadium bevorzugt gefressen, wird berichtet. Auch auf die Ausscheidungen ihrer Pflegelinge geht Merian ein. Die mit sechs kleinen Klauen versehenen Raupen hinterlassen die folgenden Stoffwechselprodukte: „Der Unrat, den sie machen, ist grün, und darnach dunkel; welcher zu hinterst, neben dieser grossen Raupen, auf dem grünen Blat ligt.” Die Kokons werden von der Biologin als „Dattelkerne” bezeichnet. Aus diesen beerenartigen Gehäusen schlüpfen neue Seidenspinner, welche als „Motten-Vögelein” bezeichnet und morphologisch in vielen Details charakterisiert worden sind 10. Zusammenfassend zeigen unsere Abbildungen 3 und 4, dass Maria S. Merian bereits 1679 an B. mori sowie zahlreichen weiteren Insektenarten nicht nur den gesamten Entwicklungszyklus sondern auch die Tier-Pflanze-Interaktion und somit einen wichtigen Teilaspekt der Ökologie dargelegt hat. In dem 1683 erschienenen Band 2 des Raupen-Buchs sind nochmal ca. 100 verschiedene Arten mit Lebenszyklus („Verwandlungen”) beschrieben („Anderer Theil”, Abbildung 4). Als Gegenstück zum „Seidenwurm” (Abbildung 5) beschreibt Merian (1683) 11 als erstes Beispiel die „nutzbarsten Bienen” (vermutlich die Westliche Honigbiene, Apis mellifera L. 1758, Abbildung 6). Erwartungsgemäß kam das Erstlingswerk der Künstlerin wegen der herausragenden Qualität der dargestellten Pflanzen und Tiere gut an. Auch der 1683 erschienene Band 2 (Abbildungen 5, 6) wurde mit Interesse aufgenommen. Die beiden Bücher wurden in verschiedenen Versionen zum Kauf angeboten (uncolorierte Billigfassung beziehungsweise von der Autorin selbst oder ihren Töchtern individuell gestaltete Farbvarianten), mit befriedigendem Absatz. Mit der Veröffentlichung ihres Hauptwerks wurde die etwa 55 Jahre alte Forscherin sehr bald eine Berühmtheit, ohne dass sich diese Anerkennung in Form von materiellem Wohlstand niedergeschlagen hätte. Über das vier Jahre nach Ende ihrer Tropen-Forschungsreise erschienene Hauptwerke zu den Insekten Surinams und deren Entwicklung sind zahlreiche exzellente Monographien publiziert worden 1-3. Während die beiden 1679 und 1683 erschienenen Raupen-Bücher 10, 11 auf deutsch publiziert worden sind, beauftragte Merian für ihr 1705 publiziertes Surinam-Werk einen Übersetzer, sodass dieser Band unter dem lateinischen Titel Metamorphosis Insectorum Surinamensium veröffentlicht werden konnte. Im Vorwort sind autobiographische Bemerkungen nachlesbar, die Einblicke in die Persönlichkeit der Autorin erlauben. So merkte Merian (1705) an, dass sie sich seit früher Jugend mit Insekten und deren Verwandlung (d. h. Entwicklung) befasst hatte, und daher, als Erforscherin dieses „Ungeziefers”, zu einer Einzelgängerin wurde, ohne viel Beziehungen zur Gesellschaft (es sei vermerkt, dass im 17. Jahrhundert eine unter anderm mit dem Hexenglauben verbundene Abneigung gegen Insekten, „Würmer” und anderes Kleingetier vorherrschte). Als Motiv für ihre gefährliche Tropenreise gab sie an, sie wolle den „Ursprung und die Fortpflanzung” dieser faszinierenden Tiere erforschen. In ihrem Meisterwerk zeichnete beziehungsweise beschrieb Merian 60 tropische Pflanzenarten und mehr als 90 verschiedene Tier-Spezies nach eigenen Originalen – eine einmalige Leistung im damaligen mittelalterlichen „biblisch-Aristoteles'schen Zeitalter”. Das Buch (Abbildung 7), sechzig Bildtafeln umfassend, brachte der Autorin Ruhm und Ehre ein, insbesondere weil sie, wie bereits zuvor, die Entwicklungszyklen verschiedener Insektenarten erstmals beschrieben hatte (Abbildung 8). Leider blieb aber auch hier der kommerzielle Erfolg aus. Merians Plan, einen zweiten Band mit Amphibien und Reptilienbildern zu veröffentlichen, konnte mangels Nachfrage nicht verwirklicht werden. Ähnlich wie Jahrzehnte später bei Alfred Russel Wallace 6, 7 war zu Merians Zeit der Absatzmarkt für naturwissenschaftliche fundierte biologische Originalwerke klein, sodass die kunstschaffende Biologin zu einer kränklich-enttäuschten, verarmen Frau wurde. Der lebenslange Einsatz für die Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Entomologie, wie auch ihre künstlerischen Leistungen, zahlten sich leider nicht aus. In den Abbildungen 8 und 9 sind zwei berühmte Surinam-Darstellungen wiedergegeben. Im „Vogelspinnen-Bild” ist der „Daseinswettbewerb” im tropischen Urwald besonders eindrucksvoll dargestellt, während das Wabenkröten-Portrait die Brutpflege dieser von Merian erstmals beschriebenen Amphibienart dokumentiert 14. Die vor 300 Jahren verstorbene deutsch-niederländische Maria Sibylla Merian wird in zahlreichen hervorragenden Büchern und Artikeln, die hier nur exemplarisch angeführt werden können, als „naturkundelnde Künstlerin” bezeichnet 1-3. In manchen Monographien wird sie darüber hinaus als originelle Insektenforscherin (Entomologin) gewürdigt 2. Da Merian, ähnlich wie Alfred Russel Wallace 6, 7, keine akademische Ausbildung vorweisen konnte, wurde sie zu Lebzeiten als Autodidaktin und Nebenfach-Forscherin eingestuft. Die Tatsache, dass sie eine Frau und alleinerziehende Mutter war, trug mit Sicherheit dazu bei, dass man Merian in der damaligen „Männerwelt” unterbewertet beziehungsweise benachteiligt hat. Erschwerend kommt hinzu, dass Merian ihre beiden biowissenschaftlichen Hauptwerke, das zweiteilige Raupen-Buch (1679/1683) 10, 11 auf Deutsch publizierte (Abbildungen 3 und 4) – das Lateinische war aber damals die Sprache der Wissenschaft. Erst ihr Metamorphosen-Werk (1705) 12 erschien in lateinischer Sprache – und Linné, Goethe und andere einflussreiche Männer ihrer Zeit bewunderten und zitierten dieses Werk. Dennoch wird Maria Sibylla Merian in der Biologiegeschichte nur als Fußnote gelistet 15, 16 oder komplett ignoriert 17. Nach ihem Tod gerieten ihre biologischen Verdienste in Vergessenheit – zum 300. Todestag sollte Maria Sibylla Merian einen lange überfälligen Ehrenplatz in der Geschichte der Biowissenschaften erhalten, in der Hoffnung, dass ihre außergewöhnlichen naturwissenschaftlich-künstlerischen Leistungen von nun an gebührend anerkannt werden 18. Ulrich Kutschera, geb. 1955, ist seit 1993 Professor C4 für Pflanzenphysiologie und Evolutionsbiologie (Lehrstuhl) an der Universität Kassel und arbeitet seit 2007 zusätzlich als Visiting Scientist in Stanford, Kalifornien (USA). Themengebiete: Physiologie & Evolution der Organismen (Bakterien, Pflanzen, Tiere); Geschichte und Theorie der Biologie (Lebenslauf s. Wikipedia, deutsche und englische Version).

Referência(s)
Altmetric
PlumX