Editorial Acesso aberto Revisado por pares

Editorial: Den Pulsschlag der Chemie fühlen – schon im Grundpraktikum

2017; Wiley; Volume: 129; Issue: 27 Linguagem: Alemão

10.1002/ange.201704760

ISSN

1521-3757

Autores

Roland A. Fischer,

Tópico(s)

Chemistry and Chemical Engineering

Resumo

Diese Erfahrungen aus Anfängerpraktika sind, wie ich finde, einzigartig im ganzen weiteren Studienverlauf. Wertvoll ist auch die schonungslose Offenlegung des Zusammenhangs von zumutbarer Aneignung von Wissen, sorgfältiger Beobachtung, logischem Denken im Umgang mit Fakten, selbstkritischer Hartnäckigkeit und Belastbarkeit mit dem Erfolg im und durch das Experiment. Als Lohn winkt Befriedigung ..." Lesen Sie mehr im Editorial von Roland A. Fischer. Fünf Jahre später war ich als Doktorand am Anorganisch-Chemischen Institut selbst einer der Lehrassistenten im Grundpraktikum. Noch später fiel mir dann sogar die Leitung des Betriebs zu, bis ich 1996 die TU München verließ. Seither haben sich das Chemiestudium, aber auch die Studieneingangsphase und deren Rahmenbedingungen stark verändert, und das gewiss nicht nur in Deutschland. Die produktiven Überlappungszonen mit Medizin und Biologie, mit Physik und den Material- und Ingenieurwissenschaften sowie das rasche Wachstum der Industrien und der modernen Techniken perforieren die traditionellen Grenzen der Chemie. Mächtige instrumentelle und theoretische Methoden zur Messung, Berechnung und Simulation kommen hinzu. Das führt zu neuen Prioritäten und erzeugt Zentrifugalkräfte in den Fakultäten. Was genau bleibt dann als gemeinsame Mitte? Partikularinteressen wirken bei der Planung, Aushandlung und Akkreditierung der kontinuierlich reformbedürftigen Studieninhalte und -strukturen. So schrumpfte auch der Umfang der in die Chemie einführenden Praktika in nasschemischer Ionenanalyse. Die darin nur durch gründliche Übung zu erreichende, stabile handwerkliche Kompetenz erweist sich als teuer erkauft durch die Bindung von Personal und Laborraum und gilt als wenig funktional in Bezug auf die konkreten Bedürfnisse nachfolgender Studieninhalte. Schließlich ist "Analytische Chemie" ja heute auch etwas völlig anderes. Tatsächlich schaffte ich zu Beginn meiner beinahe 20 Jahre an der Ruhr-Universität Bochum das Praktikum "Qualitative Analyse" klassischer Prägung ab. Gleichwohl ist es das Anliegen dieses Editorials herauszuarbeiten, worin auch in Zukunft ein gegenüber Veränderungsdruck widerständiger, wertvoller Kern der traditionellen Inszenierung des Einzugs in die chemische Laborpraxis bestehen könnte. Aktueller Anlass dieser Betrachtung sind nicht zuletzt die Erfahrungen seit meiner Rückkehr an die Chemiefakultät meiner Alma Mater, der TU München, auf dem Campus Garching im Januar 2016. Ich nahm eine Verschiebung des Schwerpunkts im Studium hin zu einer Fülle schriftlicher Prüfungen zu Beginn und Ende eines jeden Semesters und eine Verdichtung, enge Taktung und Verkürzung von Praktika als damit verknüpften Effekt wahr. Sehr große Studierenden-Kohorten sind zu bewältigen. Kann es ein verantwortliches Ressourcenmanagement da noch zulassen, jeden Studierenden nahezu voraussetzungslos den "Pulsschlag der Chemie" fühlen zu lassen, im ersten Semester schon im Labor? Der Fokus eines authentischen Auftakts in chemischer Laborpraxis sollte vordringlich, so meine These, auf dem propädeutischen Wert einer Einführung in wissenschaftliches Denken und Handeln, in gute wissenschaftliche Praxis und damit auf einer ersten Berührung mit konsequent eigenverantwortlichem, forschendem Lernen liegen. Und als propädeutisch für die Chemie als theoriegeleitete empirische Wissenschaft, so das Argument, ist das Spielfeld klassischer Ionenreaktionen in wässriger Lösung hervorragend geeignet. Die Menge an relevanten chemischen Prinzipien ist begrenzt, und ihre Aneignung ist mit etwas Anstrengung auch ohne didaktisch filigrane Führung und intensive Betreuung gut möglich. Alle erforderlichen Gerätschaften und Instrumente sowie die Methoden sind auch für Anfänger vollständig durchschaubar. Weder ein Mangel an höherer Mathematik noch eine gewisse Ahnungslosigkeit bezüglich Bau, Funktionsweise und theoretischer Fundierung physikalischer Messapparate oder das Fehlen tieferer Einsichten in die Hard- und Software von Rechenanlagen verschleiern den Blick auf das chemische Problem und die Schritte zu dessen Lösung. Diese intellektuelle wie handwerkliche Transparenz des Gegenstands ist ein besonderes Gut der klassischen Heranführung an die Chemie über die naßchemische Ionenanalyse. Dieses Gut ist, wie ich finde, einzigartig und findet sich im weiteren Studienverlauf nicht wieder. Wertvoll ist die infolge authentischer Erfahrung im Labor schonungslose Offenlegung des Zusammenhangs von zumutbarer Aneignung von Wissen, sorgfältiger Beobachtung, logischem Denken im Umgang mit Fakten, selbstkritischer Hartnäckigkeit und Belastbarkeit mit dem Erfolg im und durch das Experiment. Als Lohn winkt Befriedigung: das Erlebnis der eindeutigen Aufklärung eines Sachverhalts durch selbstständiges chemisches Handeln in einem definierten Möglichkeitsraum präzise skalierter Komplexität mit einfachen Mitteln. Das Gelingen eines so angelegten Empfangs im Labor hängt jedoch sehr stark von der inhaltlichen Ausgestaltung des Parcours und der organisatorischen Finesse ab. 1981 war das kein Kunststück; man hat uns im Wesentlichen uns selbst überlassen, und man hat uns Zeit gegeben. Heute ist das anders. Es fehlt vor allem die Zeit. Dieser Mangel beschneidet die Freiheit, Fehler zuzulassen und sinnvoll Hürden aufrechtzuerhalten, die wiederholtes Scheitern erlauben und zugleich den Durchhaltewillen fördern. Probleme erkennen, Lösungen selbst finden, Orientierung im chemischen Terrain durch geeignet geplante Experimente gewinnen und dadurch vertraut werden mit den Stoffen, das sind die Zutaten für die propädeutische Funktion des traditionellen Grundpraktikums und dessen nachhaltige Wirkung. Laborraum wird immer teurer, die Zeitbudgets sind knapp und die Studienmodule dicht getaktet. Die Anpassung an diese und andere, auch politisch gewollte Zwänge führte zu kurzen Kurspraktika mit idealtypisch perfektem Handlungsanweisungsskript, das bei Punkt-für-Punkt-Befolgung im vorgegebenen Zeitfenster Erfolg garantiert. Praktika dieser Art gab es immer schon, doch es werden ständig mehr. Sie haben sehr wohl ihre Berechtigung hinsichtlich effizienter Exposition der Studierenden gegenüber der Chemie in möglichst großer fachlicher Breite. Ihr Risiko sind der Transport und die Verfestigung einer Falschwahrnehmung von Wissenschaft. Das Erwachen ist entsprechend hart, wenn es dann im Forschungslabor ernst wird. Ein Praktikum in präparativer Chemie, das aus den genannten Gründen dem Antrainieren handwerklicher Fertigkeiten den Vorzug einräumt gegenüber einem Irrwege zulassenden forschenden Lernen, stellt ein solches Risiko dar, wenn es etwa systematisch darauf verzichtet, dem Studierenden auch den Beweis für den Syntheseerfolg abzuverlangen, wie den Nachweis von charakteristischen Eigenschaften einer authentischen Probe durch geeignete Analytik. Ein Praktikum in Analytischer Chemie, das Instrumente und Methoden systematisch als Black Boxes behandelt und deren Funktionalität und Aussagekraft als gegeben setzt, kann auch ein Risiko sein, und zwar dann, wenn das chemische Problem, die Auswahl und das Beherrschen der Methode in den Hintergrund treten gegenüber dem Training in einer Probenbehandlung nach standardisierten Kochrezepten und dem Üben an der Benutzeroberfläche des Gerätes. Diese Spannungen und Widersprüche lösen sich selbstverständlich spätestens dann auf, wenn Studierende individuell in eine Arbeitsgruppe integriert werden, durch Forschungspraktika, Bachelor- oder Master-Arbeiten, und natürlich während der Promotion. Eine frühe Integration und daher ebenso frühe fachliche Spezialisierung ist so gesehen ein Gewinn der Studienreformen seit den frühen 2000er Jahren. Dem gegenüber stehen aber die skizzierten Verluste in der Wissenschaftsförmigkeit des eigentlich auf übertragbare Qualifikationen und Kompetenzen angelegten Basisstudiums und dessen gnadenlose Verschulung auch der Praktika. Es ist eine interessante Herausforderung, diesem Trend Widerstand zu leisten. Gute Lehre kostet. Hat sie den Anspruch, so hervorragend wie die Forschung sein zu wollen, wird es teuer. Mindestens gefragt sind Erfindungsreichtum, Kreativität und nachhaltige Begeisterung der Verantwortlichen für ein Gelände, das weit entfernt liegt von ihrem unmittelbaren Eigeninteresse in der Forschung. Einer Zuschreibung, dass die "qualitative Ionenanalyse" einer anorganisch-chemisch geprägten Forschung auch nur im Ansatz näher läge als jeder anderen chemischen Disziplin, widerspräche ich mit Angriffslust! Der Empfang unserer Studierenden im Labor kann zeitgemäß sein, sehr spannend und als Ausdruck der gemeinsamen Mitte gestaltet werden, wenn Synthese und Analyse authentisch verknüpft sind und der Parcours für die Studierenden erkennbar wissenschaftspropädeutisch angelegt ist. So lautet meine Botschaft. In Anerkennung struktureller Leitplanken und immer zu knapper Ressourcen gibt es dafür verschiedene Lösungen. Dann ist der "Pulsschlag der Chemie" schon zu Anfang für die Studierenden fühlbar. Vielleicht empfinden dann auch Spitzenforscherinnen und -forscher wieder mehr Freude und Neugier daran, hin und wieder ein Erstsemesterpraktikum zu betreten. – Da gab es diese Momente, in denen die Tür zum daneben gelegenen Doktorandenlabor aufging und der Nobelpreisträger Ernst Otto Fischer unser Tun und Treiben mit freundlich kritischen Blicken musterte, uns über die Schulter schaute und bohrende Fragen stelle. Uns hat das geprägt!

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