Artigo Acesso aberto Revisado por pares

Chemie, dem Leben verpflichtet

2017; Wiley; Volume: 129; Issue: 37 Linguagem: Alemão

10.1002/ange.201707088

ISSN

1521-3757

Autores

Thisbe K. Lindhorst,

Tópico(s)

Chemistry and Chemical Engineering

Resumo

„… Wissenschaft, die nur ihren eigenen Interessen dient, die wegsieht, wenn es unbequem ist, oder die eher liebgewonnene Territorien absteckt als mutig und neugierig neues Terrain zu betreten, die wird auch das Vertrauen der Gesellschaft in wissenschaftliche Wahrheitssuche in Gefahr bringen – keine gute Perspektive für eine wissenschaftliche Gesellschaft! Die GDCh muss als eine Verantwortungs- und Wertegemeinschaft in der Chemie eine Kultur pflegen, die das Wohlergehen aller Menschen und des Planeten im Sinn hat …” Lesen Sie mehr im Editorial von Thisbe K. Lindhorst. Vor 150 Jahren, am 11. November 1867, wurde in Berlin die Deutsche Chemische Gesellschaft (DChG) gegründet. Sie ist die ältere der beiden Vorgängerorganisationen der GDCh, die nach dem Zweiten Weltkrieg deren Nachfolge antrat. August Wilhelm Hofmann wurde der erste Präsident der DChG – Adolf von Baeyer war ihm bei der Wahl mit gerade zwei Stimmen unterlegen. Hofmann, aus England kommend, war dort schon Präsident der Londoner Chemical Society gewesen, die 1841 gegründet worden war. Er bestimmte nun maßgeblich den Start der jungen, schnell wachsenden DChG. Professor Jeffrey Johnson stellt in einem sehr lesenswerten Übersichtsartikel in diesem Heft den Aufstieg und den Niedergang der DChG und anderer deutscher Chemiegesellschaften in den historischen Kontext der Zeit von 1867 bis 1945. Am Ende des Zweiten Weltkrieges und nach dem Untergang des mörderischen Hitler-Regimes lagen auch die deutschen Chemiegesellschaften moralisch am Boden. Die Gründung der GDCh im Jahr 1949 bedeutete oganisatorisch einen Neuanfang, aber die ethische Erneuerung der Gesellschaft nahm noch längere Zeit in Anspruch. In jüngster Zeit hat sich die GDCh gerade diesem schweren historischen Erbe gestellt und eine detaillierte Aufarbeitung der Verstrickung der deutschen chemischen Gesellschaften mit dem Unrechtsregime der Nazis in Auftrag gegeben. So konnte schließlich 2015 das über 700 Seiten starke Buch des Historikers Helmut Maier mit dem Titel “Chemiker im Dritten Reich” beim Verlag Wiley-VCH erscheinen. Auch der Primo-Levi-Preis, den die GDCh zusammen mit der Italienischen Chemischen Gesellschaft bei der Eröffnungsveranstaltung zum Jubiläum zum ersten Mal vergibt, ist ein Zeichen dafür, dass die GDCh sich ihrer Vergangenheit bewusst ist und ihre Zukunft auf der Basis unverbrüchlicher Werte aufbauen will. Primo Levi, der Namenspatron der neu geschaffenen Auszeichnung, war ein italienischer Chemiker und Jude, der von Deutschen in ein Vernichtungslager nahe Auschwitz deportiert wurde und dort knapp überleben konnte. Levi hat in zahlreichen literarischen Werken diese Zeit dokumentiert und die Lehre der Geschichte vor dem Vergessen bewahrt. Mit dem Primo-Levi-Preis werden Wissenschaftler geehrt, die sich nicht nur für die Chemie, sondern auch in besonderem Maße für die Wahrung der Menschenrechte einsetzen. Noch lange vor dem ersten und zweiten Weltkrieg, der Europa und die Welt in eine völlig veränderte Zeit katapultierte, war die Deutsche Chemische Gesellschaft unter Hofmanns Führung weltoffen und international gestartet, obwohl die Zeiten auch damals nicht friedlich und von Nationalismen geprägt waren. Wissenschaft habe über der Politik und über nationalstaatlichen Interessen zu stehen, das war die herrschende Ansicht in der DChG. Und in der Tat war die DChG 1880 nicht nur die größte chemische Gesellschaft der Welt, sondern wies mit 40 % ausländischen Mitgliedern auch eine beachtliche Internationalität auf. Trotz des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 konnten engstirnige oder feindlich nationalistische Geisteshaltungen in der DChG nicht verfangen. Die Wertschätzung für wissenschaftliche Leistungen, egal aus welchem Land, blieb ein Leitmotiv der DChG, das uns auch heute selbstverständlich und Maßstab ist. Die wesentlichen Faktoren, die der DChG zu ihrem Aufstieg verhalfen, sind bis heute ein Rezept für den Erfolg chemischer Gesellschaften: offene Arme für alle, die sich für Chemie interessieren, ein unbedingter Anspruch an Qualität und wissenschaftlichen Fortschritt sowohl an Forschungsinstituten als auch in der industriellen Chemie und natürlich ausgezeichnete Fachzeitschriften für die Kommunikation über Raum und Zeit hinweg. Andere Leitlinien der DChG sind nicht mehr zeitgemäß: Eine reine Männergesellschaft z. B. erscheint heute wohl niemandem mehr attraktiv, und die Chemie kann sich nicht mehr – wie zu Hofmanns Zeiten – einfach “über die Politik” stellen. Längst befindet sich unser Fach mittendrin in der politischen, wirtschaftlichen und ethischen Diskussion der Gesamtgesellschaft. Das ist angesichts der Veränderungen, die die letzten 150 Jahre mit sich gebracht haben, nicht verwunderlich. Sowohl die Chemie als auch unsere Welt sind eine andere geworden. Wurde in den Anfangszeiten der DChG noch darüber gestritten, ob die Struktur eines Moleküls überhaupt ergründet werden könne, machen wir heute Einzelmoleküle sichtbar. Einerseits haben die Erkenntnisse und Produkte der Chemie Menschen in allen Lebensbereichen zu nie gekanntem Wohlstand verholfen. Andererseits sieht sich unsere globalisierte Welt aber auch nie gekannten Herausforderungen gegenüber, die wir zum Teil selbst herbeigeführt haben und die wir auch selbst bewältigen müssen. Die UNO hat bereits 2015 mit den “17 Zielen für eine nachhaltige Entwicklung” darauf hingewiesen, worum es im Kern geht: dass es künftigen Generationen nicht schlechter, sondern besser als der unseren geht und dass wir die Natur, von der wir leben, nicht zerstören. Kann die Chemie helfen, eine bessere Zukunft für alle zu gestalten? Können wir als Fachleute für Chemie mit anderen Expertinnen und Experten zusammen Architekten der Zukunft sein? Gibt es jetzt, angesichts einer 150-jährigen Geschichte, eine Gunst der Stunde, die eine chemische Gesellschaft nutzen kann? Vielleicht ja, denn die Zukunft hat einen Preis, der mit der Vergangenheit zu tun hat. Wir können mit dem bezahlen, was wir richtig gemacht haben, und mit dem, was wir nicht mehr falsch machen wollen. Wir können die Zukunft auf Werte bauen, die wir aus dem ableiten, was die Geschichte uns lehrt und das Leben von uns verlangt. Die Chemie muss dem Leben dienen und darf den Lebewesen auf der Erde nicht schaden. Die Chemie darf keine Mauern bauen, sondern muss Grenzen überschreiten und die internationale Zusammenarbeit fördern. Wir müssen auch kreatives Denken in der Chemie unterstützen, offen für das ganze Spektrum von Fragestellungen und Themen sein und nicht nur dem Mainstream folgen. Und chemisches Wissen muss so angewendet werden, dass das Ergebnis gut ist. Dafür ist ein Bewusstsein für die Folgen unserer Erfindungen und Produkte Voraussetzung und eine gute Portion Selbstreflexion nötig. Also müssen wir als Chemikerinnen und Chemiker über das Experiment hinausdenken und seine Folgen für die Zukunft in den Blick nehmen. Dafür die gleiche Detailgenauigkeit und Ausführlichkeit zu investieren wie für die Planung des Experiments, das ist für den Erfolg der Chemie entscheidend. Sich all dieser Aspekte bewusst zu sein, “Systemdenken” sozusagen, das muss man trainieren, und zwar schon während der Chemie-Ausbildung. Manchmal scheint Bildung in einer Wissensgesellschaft etwas aus der Mode gekommen, als gehöre dieser Begriff der kulturellen Vergangenheit an. Tatsächlich aber ist Bildung heute besonders unentbehrlich, weil die Gesellschaft durch immer mehr Informationen unter Druck gerät und zugleich das alltägliche Leben einer drastischen Beschleunigung ausgesetzt ist. In einer Welt, die sich so schnell wandelt wie die unsere, ermöglicht Bildung die nötige Orientierung im Leben. Orientierung ist auch in der Chemie nötig. Eine chemische Ausbildung sollte deswegen mit Bildung gepaart werden, denn sie hilft uns, Wissen anzuwenden, und mahnt uns, unsere Fachwissenschaft nicht auf kurzfristige Erfolge auszurichten, sondern in den Dienst langfristigen allgemeinen Fortschritts zu stellen. Wissenschaft, die nur ihren eigenen Interessen dient, die wegsieht, wenn es unbequem ist, oder die eher liebgewonnene Territorien absteckt als mutig und neugierig neues Terrain zu betreten, die wird auch das Vertrauen der Gesellschaft in wissenschaftliche Wahrheitssuche in Gefahr bringen – keine gute Perspektive für eine wissenschaftliche Gesellschaft! Die GDCh muss als eine Verantwortungs- und Wertegemeinschaft in der Chemie eine Kultur pflegen, die das Wohlergehen aller Menschen und des Planeten im Sinn hat. Sie hat mit dem Verhaltenskodex in ihrer Satzung ein Bekenntnis zu dieser Kultur abgelegt: eine Chemie, die dem Leben verpflichtet ist. Unser Wissen in diesem Sinne anzuwenden ist der Preis für eine gedeihliche Zukunft und wird auch unser Lohn sein. Dann wird etwas Gutes aus unserer Geschichte, dann haben wir allen Grund zu feiern.

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