Artigo Acesso aberto Revisado por pares

Les défis du régionalisme politique en Suisse : Le Tessin et ses relations avec BerneMazzoleni, OscarGenève, Éditions Slatkine (2017), 215 p., ISBN 978‐2‐8321‐0810‐9

2017; Wiley; Volume: 24; Issue: 1 Linguagem: Alemão

10.1111/spsr.12277

ISSN

1662-6370

Autores

Sean Mueller,

Tópico(s)

Public Administration and Political Analysis

Resumo

Eines besseren Verständnisses der Tessiner Politik willen stellt dieses französische Buch eine auch inhaltlich nachgeführte Version eines ursprünglich auf Italienisch verfassten Werkes (Mazzoleni 2015) dar. Um Verständnis und Sprache geht es denn auch im Wesentlichen, stehen doch die inneren Verhältnisse des einzigen rein italienischsprachigen Kantons der Schweiz ebenso im Fokus wie (Miss-)Verständnisse eigener und fremder, kantonaler und nationaler, europäischer und transnationaler Identitäten. Auf den Punkt gebracht liest sich dies wie folgt (S. 17): Was ist los im Tessin, das die Masseneinwanderungsinitiative der SVP mit rekordhoher Zustimmung annahm, die Bilateralen I+II mit kreativer Gesetzgebung untermauert, in Bern eine bessere Beachtung seiner Interessen fordert und dessen grösste Regierungspartei, die Lega dei Ticinesi, ihren Erfolg einer konsequenten Anti-Grenzgänger-Politik verdankt? Zur Beantwortung dieser und verwandter Fragen präsentiert Kapitel 1 einen theoretischen Rahmen, der im Wesentlichen auf Stein Rokkans (1999) Peripherie-Konzept aufbaut. Dessen allzu statische Ausrichtung ergänzt Mazzoleni durch eine dynamischere Perspektive (S. 26), die zulässt, dass erst bestimmte Ereignisse eine Peripheralisierung hervorrufen oder dieser entgegenwirken und damit den Zusammenhalt fördern. Im Kontext von Globalisierung und europäischem Integrationsprozess schreibt Mazzoleni beiden Phänomenen eine umso grössere Wichtigkeit zu, als dass die nationalstaatlichen Grenzen an Bedeutung verlieren und sich neue territoriale Orientierungspunkte (die Stadt, die Agglomeration, die Region, der Kanton etc.) aufdrängen. Kapitel 2 und 3 wenden die drei Dimensionen des so umfassten Zentrum-Peripherie-Konflikts auf das Tessin an, indem sie erst die erfolgreiche nationale Integration und dann die periphere Desintegration aufzeigen. 1) Wirtschaftlich lange im Hintertreffen gegenüber dem Rest der Schweiz, erlebte das Tessin in den Nachkriegsjahren zwar einen unvergleichbaren Aufschwung, der allerdings in den Krisenjahren nach Ende des Kalten Krieges zur Last unerfüllbarer Erwartungen wurde. 2) Ein kulturell gesehen starkes Abgrenzungskriterium gegenüber den helvetischen Schwestern und Brüdern liegt in der italienischen Sprache (und im Dialekt eines gegenüber Italien), die aber zugleich durch ihre nationale und kantonale Anerkennung lange zur erfolgreichen nationalen Integration des Tessins beitrug. Der lange Ausschluss aus dem Bundesrat galt allerdings als Symbol transalpiner Indifferenz; wie stark die Wahl von Ignazio Cassis im September 2017 hier Abhilfe schaffen kann, muss sich erst noch zeigen. 3) In der politischen Dimension schliesslich waren es lange Zeit die etablierten Parteien FDP, CVP und SP, die durch ihre kantonalen Sektionen und eidgenössischen Parlamentarier (ab 1979 auch Parlamentarierinnen) die Verbindung mit Bundesbern aufrechterhielten. Während der Föderalismus helvetischer Prägung aber lange als Synonym interregionaler Solidarität und fein austarierten Ausgleichs galt, führten auch hier Privatisierung, Polarisierung und Urbanisierung zum Verlust seiner zentripetalen Wirkung (S. 73–77). Alle drei Dimensionen der Peripheralität wiesen also schon in den 1990er-Jahren auf die Möglichkeit einer (Re-)Aktivierung des Zentrum-Peripherie-Konfliktes in Bezug auf das Tessin hin. Auf diesen strukturellen und institutionellen Grundlagen aufbauend widmen sich die Kapitel 4 bis 7 der Akteursdimension. Als Erstes wird die Entstehung der Lega erklärt – ein Resultat sowohl der Unfähigkeit der etablierten Parteien, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, wie auch dem politischen Gespür Giuliano Bignascas geschuldet, die entstandene medienpolitische Stille gnadenlos auszunutzen (S. 92–100). Denn dass es nirgendwo sonst einer brandneuen Partei möglich war, innerhalb von nur wenigen Monaten 12% der kantonalen Wählerschaft für sich einzunehmen, spricht ebenso für das neue Angebot wie gegen die politischen Alternativen. Der Aufstieg der Lega hat seinen bisherigen Höhepunkt mit der Eroberung eines zweiten Sitzes im fünfköpfigen Regierungsrat im Jahr 2007 erreicht (S. 99; als mittlerweile einziger Kanton bestellt das Tessin auch seine Exekutive im Proporzsystem, was den Aufstieg der Lega natürlich zusätzlich erleichterte). Die im Buch verschiedentlich angesprochene Ambivalenz kommt somit auch hier zum Tragen: Einerseits ist die Lega die grösste Partei, andererseits bleibt sie gegenüber den anderen drei Mitgliedern des rein männlichen Regierungsrats eine Minderheit. Kapitel 5 beleuchtet eine von zwei Achsen der regionalistischen Mobilisierung: die behauptete Vernachlässigung durch Bundesbern in Sachen staatsnaher Arbeitsplätze (z.B. SBB, Post, SRG, Bundesstrafgericht), Investitionen, Subventionen oder beim Ausbau von Verkehrswegen (unvergessen die im Buch leider nicht erwähnte PR-Aktion der Tessiner Regierung zur zweiten Gotthard-Röhre, die sich allerdings an die anderen Kantone direkt richtete; cf. Corriere del Ticino 2016). Zeugen dessen sind nicht zuletzt die zahlreichen Standesinitiativen (Tabelle 5, S. 118–9). Das schon in Kapitel 2 angesprochene Paradox tritt dabei offen zu Tage: Eine (Re-)Zentralisierung auf nationaler Ebene, sprich stärkere Interventionen der Eidgenossenschaft, um einer weiteren Peripheralisierung des Kantons Einhalt zu bieten. Kapitel 6 und 7 widmen sich dem zweiten Antipoden regionalistischer Identitätsauffassung: der EU, im Abstrakten, und den Beziehungen zum grenznahen Italien, im Konkreten. Beide eignen sich hervorragend zur Mobilisierung protektionistischer Instinkte, denn während die EU durch ihre technokratische Distanz und mangelnde demokratische Mitwirkung zur Antischweiz stilisiert wird, werden die italienischen Grenzgänger („frontalieri”) als die Personalisierung des „unfairen” Wettbewerbs dämonisiert (unfair weil die Lebenskosten in Italien einiges tiefer sind als im Tessin). Das Schlusskapitel fasst die so gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Positiv hervorzuheben an diesem Buch sind sicher der Reichtum des präsentierten Materials, die originelle theoretische Perspektive und die Behandlung einer für die ganze Schweiz relevanten Thematik. Umfrageergebnissen wird ebenso Platz eingeräumt wie aggregierten Analysen von Abstimmungs- und Wahlresultaten oder der qualitativen Diskussion ausgewählter politischer Initiativen von Behörden und Parteien. Ebenso widmen sich nur wenige politikwissenschaftliche Werke so explizit dem Zentrum-Peripherie-Konflikt wie dieses hier. Dessen Relevanz leitet sich erstens aus theoretischen Diskussionen ab, da er den eigentlichen Ursprung des modernen Nationalstaates darstellt, welcher – in den Worten Rokkans (1999) – durch politische Zentralisierung, wirtschaftliche Standardisierung und kulturelle Homogenisierung entstand. Zweitens entfaltet er seine empirische Relevanz gerade auch in föderalen Staaten wie der Schweiz, die auf ein einziges Zentrum explizit verzichten und politische, wirtschaftliche und kulturelle Deutungshoheit aufteilen. Das Beispiel Tessin zeigt emblematisch, dass es dennoch zu wahrgenommener Minorisierung kommen kann: „verlassen und verraten”, in den Worten der Lega (S. 187). Dennoch hätte das Werk von einer ausführlicheren vergleichenden Einordnung der beobachteten politischen Phänomene und einem strikteren analytischen Rahmen profitieren können. Andere, mehr oder wenig direkt vergleichbare Regionen – Schottland, Katalonien, Flandern oder Südtirol – werden zwar gelegentlich erwähnt, doch hätte gerade ein expliziter Vergleich den „Sonderfall im Sonderfall” (S. 189) noch deutlicher akzentuieren können. Dazu kommen nicht erwähnte regionale/föderale Einheiten wie Bayern, Wallonien, Korsika, Wales oder Nordirland, wo teils sehr ähnliche, teils sehr unterschiedliche Dynamiken stattfinden. Ebenso bietet sich ein Vergleich mit anderen Kantonen – Genf, Basel, Schaffhausen, Jura oder Zürich zum Beispiel – an, ob diese nun regionalistische Parteien vorweisen oder nicht. Eine Alternative zu einem interregionalen Vergleich, der natürlich auch die jetzt bestehende totale Aufmerksamkeit von Tessiner Einzelfall abgezogen hätte, wäre eine klarere Ausarbeitung von zu testenden Hypothesen auf den verschiedenen Analyseebenen gewesen. So sind die Erwartungen gegenüber Individuen nicht die gleichen wie jene, die sich an Parteien richten, welche wiederum zu unterscheiden sind von institutionellen Akteuren wie kantonale Regierung und Parlament. Fast genauso, wie auch die regionalistische Mobilisierung mit Problemen und Antworten auf verschiedenen politischen Ebenen zu punkten versucht, springt auch die empirische Evidenz im Buch zum Teil sehr schnell von einer zur anderen Ebene. Diese beiden letzten Punkte sollen natürlich auch als Aufforderung verstanden werden, die politikwissenschaftliche Forschung zu den Schweizer Kantonen, der Dynamik des Föderalismus, den Auswirkungen von Globalisierung und Europäisierung auf kantonale und nationale Parteiensysteme und Präferenzen in der Wählerschaft weiterzuführen. Allen an diesen und verwandten Aspekten Interessierten bietet vorliegendes Buch einen hervorragenden Ausgangspunkt.

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