Artigo Acesso aberto Revisado por pares

Neugierig auf die Zukunft

2018; Wiley; Volume: 130; Issue: 16 Linguagem: Alemão

10.1002/ange.201711265

ISSN

1521-3757

Autores

Stefan Oschmann,

Tópico(s)

Social and Demographic Issues in Germany

Resumo

„… Wir müssen die Menschen für den Wert und die Möglichkeiten der Wissenschaft begeistern. Dafür brauchen wir ambitionierte Vorhaben, die die Grenzen des Möglichen verschieben. Denn sie wecken Entdeckerfreude und Lust auf das Neue, das Unbekannte. Ich bin überzeugt, Bahnbrechendes ist möglich. Verantwortungsvolles Unternehmertum und wissenschaftliche Neugier können uns noch weit bringen …” Lesen Sie mehr im Editorial von Stefan Oschmann. Die Naturwissenschaften haben seitdem große Fortschritte gemacht – und ebenso das Unternehmen Merck KGaA, Darmstadt, Germany. Aus der Apotheke entwickelte sich in dreieinhalb Jahrhunderten ein global aufgestelltes Wissenschafts- und Technologieunternehmen mit rund 50 000 Mitarbeitern in 66 Ländern auf der ganzen Welt. Das ist eine großartige unternehmerische Erfolgsgeschichte, auf die alle Mitarbeiter sehr stolz sein können – vor allem die Merck Familie, die heute noch die Mehrheit der Anteile am Unternehmen hält. Ein solches Jubiläum ist natürlich Grund zum Feiern. Vor allem aber ist es ein Grund, den Blick nach vorn zu richten und zu fragen: Was können wir aus dieser Geschichte lernen? Was ist es, das uns als Wissenschafts- und Technologieunternehmen langfristig erfolgreich macht? In der Management-Literatur finden sich zu diesen Fragen viele Antworten. Ob Kultur, Strategie oder Innovationsfähigkeit, die vermeintlichen Gründe für langfristigen unternehmerischen Erfolg sind mannigfaltig. Gesicherte Erkenntnis scheint nur: Den einen Erfolgsfaktor gibt es nicht. Wenn sich keine allgemeinen Gründe identifizieren lassen, bleibt nur die Suche nach konkreten Gründen. Was hat also die Entwicklung unseres Unternehmens über dreieinhalb Jahrhunderte begünstigt? Meines Erachtens sind hier im Wesentlichen zwei Gründe zu nennen. Zu allererst natürlich die Merck Familie. Über mittlerweile 13 Generationen bestimmt sie den Kurs unseres Unternehmens. Ihrer langfristig angelegten Strategie, getragen vom Selbstverständnis als Treuhänder der kommenden Generationen und basierend auf klaren Werten, ist es zu verdanken, dass wir heute unser 350-jähriges Bestehen feiern können. Verantwortungsvolles Unternehmertum war und ist essentiell für unsere unternehmerische Entwicklung. Eine ganz wesentliche Rolle in der Geschichte unseres Unternehmens spielte beispielsweise Emanuel Merck. Er übernahm die Apotheke 1816. Emanuel Merck hatte nicht nur, wie damals üblich, das Apothekerhandwerk gelernt, sondern auch eine umfassende naturwissenschaftliche Ausbildung erhalten. Er forschte auf dem Gebiet der Phytochemie, insbesondere an Alkaloiden. Das wissenschaftliche Interesse an diesen hochwirksamen Pflanzeninhaltsstoffen nahm deutlich zu, nachdem Friedrich Wilhelm Sertürner Anfang des 19. Jahrhunderts Morphin als wirksame Substanz in Opium identifiziert hatte. Isolierte Alkaloide hatten gegenüber den damals üblichen Pflanzenzubereitungen einen entscheidenden Vorteil: Ärzte konnten sie exakt dosieren, die Wirkung am Patienten wurde kalkulierbar. Emanuel Merck gelang die Herstellung besonders reiner Alkaloide, die er anderen Apothekern, Ärzten und Wissenschaftlern auch zu Forschungszwecken zur Verfügung stellte. Seine Produkte fanden Anklang, die Nachfrage stieg, und innerhalb kurzer Zeit lieferte er in viele europäische Länder. Dank des Forscherdrangs und der Entdeckerfreude Emanuel Mercks wuchs die Apotheke zu einem forschenden Industrieunternehmen heran. Dieses Beispiel verweist auf den zweiten zentralen Faktor für unsere erfolgreiche Entwicklung: Neugier. Um über Jahrzehnte und Jahrhunderte zu wachsen, müssen Unternehmen wissenschaftliche Neuerungen erkennen und für sich nutzen – kleine Fortschritte ebenso wie Paradigmenwechsel. Ein gutes Beispiel ist die Geschichte unseres Flüssigkristallgeschäfts. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hatten wir Substanzen im Angebot, deren flüssigkristalline Eigenschaften in der Grundlagenforschung Beachtung fanden. Doch die Nachfrage war äußerst gering, man sah keine technischen Anwendungsmöglichkeiten, und schließlich wurde das Geschäft wieder eingestellt. Ende der 1960er Jahre besuchte einer unserer Forscher eine wissenschaftliche Tagung zu Flüssigkristallen in den USA. Er war vom Potenzial dieser Substanzen überzeugt und begann sich gemeinsam mit seinen Kollegen ihnen zu widmen. Neugierige Wissenschaftler legten so den Grundstein für ein Geschäft, das heute eine wichtige Säule des Unternehmens ist. Das zeigt: Neugier muss kultiviert. Aber was heißt Neugier eigentlich konkret? Gemeinsam mit Partnern aus der Wissenschaft sind wir dieser Frage nachgegangen und haben ein Modell der Neugier entwickelt, das aus vier Komponenten besteht: Offenheit für neue Ideen – die Vorliebe für eine Vielzahl an Erfahrungen und Perspektiven. Wissbegierde – der Hang dazu, Fragen zu stellen und Ideen zu analysieren. Kreativität bei der Problemlösung – die Bereitschaft, neue Methoden auszuprobieren. Stresstoleranz – die Fähigkeit, allem Unbekannten mit Mut statt mit Angst zu begegnen. Ich bin überzeugt, Neugier in diesem Sinne ist heute wichtiger denn je. Nicht nur für Unternehmen – auch wir als Gesellschaft brauchen mehr Forscherdrang und Entdeckerfreude. Denn wir stehen vor sehr großen Aufgaben. Im September 2015 haben die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Darin festgeschrieben sind 17 ehrgeizige Ziele, zum Beispiel das Ende der Armut, das Ende des Hungers und ein gesundes Leben für Menschen jeden Alters. Für mich ist klar: Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir wissenschaftlichen Fortschritt und neue Technologien. Und Fortschritte machen wir. Auch unsere Technologien eröffnen ganz neue Möglichkeiten: Immuntherapien wirken zumindest bei einigen Krebspatienten mittlerweile sehr lange. Das Gen-Editieren erlaubt uns, die Funktionsweise einzelner Gene viel besser zu verstehen als bisher – und das ist eine wichtige Grundlage für neue Therapien. Mithilfe der organischen Photovoltaik können wir beispielsweise Gebäudefassaden in Energiequellen verwandeln. Der technische Fortschritt wirft allerdings auch neue Fragen auf, denn unsere Welt wandelt sich fundamental. Macht, schreibt Moisés Naim, der ehemalige Chefredakteur der Zeitschrift Foreign Policy, verliert an Bedeutung. Seiner Analyse zufolge ist sie heute leichter zu gewinnen, schwerer zu verteidigen und einfacher zu verlieren als je zuvor. Warum? Weil die Barrieren, die diejenigen in machtvollen Positionen lange schützten, heute leichter zu umgehen und einfacher zu überwinden sind. Das gilt vor allem für etablierte Unternehmen. Eine starke Marktposition garantiert heute weniger als in der Vergangenheit eine erfolgreiche Zukunft. Kodak und Nokia sind dafür prominente Beispiele. Der technische Wandel ist für Naim bei Weitem nicht die einzige Ursache des Verfalls von Macht. Aber er trägt dazu bei. Wir erleben das in unserem täglichen Geschäft. Neue Technologien überwinden bisherige Branchengrenzen und definieren Wertschöpfungsketten neu. Ein gutes Beispiel ist die Krebstherapie. Moderne IT-Systeme und komplexe Datenanalysen spielen hier mittlerweile eine ebenso wichtige Rolle wie Biologie und Chemie. Für die Pharmabranche ist das eine grundlegende Entwicklung. Große IT-Unternehmen verfügen heute über ein riesiges Volumen an Gesundheitsdaten – eine zunehmende Gefahr für das bisherige Alleinstellungsmerkmal “Forschung und Entwicklung” der Branche. Was heißt das für ein etabliertes Wissenschafts- und Technologieunternehmen wie unseres? Wir müssen die Art, wie wir arbeiten, anpassen an eine Welt, die sich rasant verändert und in der neue Anbieter sehr schnell wachsen können. Das heißt vor allem: Wir müssen neue Technologien und Geschäftsmodelle schneller an den Markt bringen. Dafür gilt es, Entscheidungsprozesse zu beschleunigen, Wissen und Kompetenzen transparent und zugänglich zu machen und die Zusammenarbeit über Bereichs- und Abteilungsgrenzen hinweg zu stärken. Wir brauchen vielfältig und interdisziplinär aufgestellte Teams und hohe Wertschätzung für herausragende Wissenschaftler. Exzellente Forscher müssen die Stars im Unternehmen sein. Auch im Verhältnis nach außen müssen Organisationsgrenzen an Bedeutung verlieren. Wissenschafts- und Technologieunternehmen brauchen eine enge Vernetzung mit vielversprechenden Start-up-Firmen, führenden Forschungseinrichtungen und Universitäten. Wir stellen diesen Gedanken buchstäblich in das Zentrum unseres Unternehmens: Unser neues Innovationszentrum bildet das Herzstück unserer Konzernzentrale. Interne Projektteams und vielversprechende Start-up-Firmen finden dort alles, was sie brauchen, um ihre Geschäftsideen jenseits der Strukturen eines Großkonzerns schnell in die Tat umzusetzen. Effiziente Prozesse, ein gutes Arbeitsumfeld und leistungsfähige Infrastruktur, all das ist wichtig. Aber darüber hinaus müssen wir die Menschen für den Wert und die Möglichkeiten der Wissenschaft begeistern. Dafür brauchen wir “Moonshots”, also ambitionierte Vorhaben – wie die Mondladung in den 1960er Jahren in den USA –, die die Grenzen des Möglichen verschieben. Denn sie wecken Entdeckerfreude und Lust auf das Neue, das Unbekannte. Für den großen Chemiker Justus von Liebig, einen Freund Emanuel Mercks, fing Wissenschaft da an interessant zu werden, wo sie aufhört. Ich finde, recht hat er. Und ich bin überzeugt, Bahnbrechendes ist möglich. Verantwortungsvolles Unternehmertum und wissenschaftliche Neugier können uns noch weit bringen.

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