Artigo Acesso aberto Revisado por pares

Gedanken zur Chemie und wissenschaftlichen Wahrheit in postfaktischen Zeiten

2018; Wiley; Volume: 130; Issue: 28 Linguagem: Alemão

10.1002/ange.201802088

ISSN

1521-3757

Autores

Peter R. Schreiner,

Tópico(s)

Climate Change Communication and Perception

Resumo

… Der Wert und die Bedeutung wissenschaftlicher Wahrheit wurden weder durch die Postmoderne noch durch postfaktische Tendenzen überwunden. Nur weil Politik in Wesentlichen Meinungen repräsentiert, heißt dies nicht, dass die Wahrheit irrelevant geworden ist. Ganz im Gegenteil: Der Wert der Wahrheit wächst in schwierigen Zeiten, denn sie ist die Währung der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen …” Lesen Sie mehr im Gast-Editorial von Peter R. Schreiner. Ich mache mir keine Sorgen um die Chemie als wissenschaftliche Disziplin – wenn auch manche meinen, dass sie neu erfunden werden müsste1 –, weil sie ein wesentlicher Bestandteil unseres Wohlergehens ist und eine Schlüsselrolle bei der Lösung aktueller Herausforderungen (Energie, Nahrung, Gesundheit, Verschmutzung, Wasser) spielt. Darüber hinaus passt sich die Chemie als Disziplin, die die Struktur der Materie zu verstehen und zu verändern sucht, kontinuierlich an die Herausforderungen an, denen sie gegenübersteht. Doch wäre es wünschenswert, wenn aktuelle Diskussionen, wie etwa die über den Dieselmotor oder über die Elektromobilität, nicht nur Manager von Kfz-Herstellern, Ingenieure und Politiker, sondern auch Chemiker/innen einbeziehen würden, da die derzeitigen Hindernisse überwiegend wissenschaftlicher Natur sind. Die Sichtbarkeit und gesellschaftliche Anerkennung der Chemie spiegelt ihre tatsächliche Bedeutung nicht wider. Um die Chemie als Studiengang – und wahrscheinlich auch andere universitäre Studiengänge – sollte man sich sorgen, denn mehr als andere Disziplinen leidet sie an der “Bachelorisierung” (der “Bologna-Reform” in Europa), die theoretisches Wissen über die Praxis stellt, das Wiedergeben unzusammenhängender Fakten über fachlich-logisches Argumentieren und die Uniformität Studierender über die Heranbildung kritisch denkender Individuen. Für die Chemie als anspruchsvolles Handwerk sind Online-Kurse und Videos im Youtube-Stil kaum sinnvoll. Würden Sie Ihre Kinder an die bestmögliche Universität mit hochkarätigen Forschern/Forscherinnen schicken, nur um jene auf einem Video zu sehen? Der Geringschätzung praktischer Lehrinhalte nimmt den Zauber und die Inspiration, ein (neues) Molekül hergestellt oder sein Spektrum mit eigenen Händen aufgenommen zu haben weg. Vielmehr liegt der Wert der Chemie für die Gesellschaft darin, praktische und theoretische Lösungen bereitzustellen: [Chemie] “muss Studenten die Fähigkeiten beibringen, Probleme anzugehen, die während ihres Studiums noch nicht einmal als Probleme existieren.”1 Zumindest in Deutschland fühlt sich die Bologna-Reform etwa so an, als ob die Universitäten ihre Identität im Bereich der Lehre und Humboldts humanistische Ideale teilweise aufgegeben hätten. Vielleicht übertreibe ich, aber das aktuelle bulimische Wachstum von Studiengängen mit bunten Namen wie “Gewerblich-technische Bildung – Körperpflege”2 wo unsere Kollegen/innen gezwungen sind, die naturwissenschaftlichen Lehranteile abzuleisten, kann kaum als eine wünschenswerte Entwicklung betrachtet werden. Einige haben vielleicht meine Kritik an der BSc/MSc-Programm-Akkreditierung gelesen, wo ich aufforderte, aktiver und mutiger bei der Gestaltung unserer Chemie-Curricula zu sein.3 Diese Forderung geht letztlich auf A. von Baeyer zurück, der 1870–1900 die Chemielehrpläne maßgeblich mitgestaltete. Damals forderte die Industrie eine Vereinheitlichung der Chemie-Studiengänge, um den Ansprüchen der Arbeitgeber gerecht zu werden. Dies ist der aktuellen Programmakkreditierung nicht unähnlich. A. von Baeyer, W. Ostwald und A. W. Hofmann haben auf interne Qualitätskontrolle (heute Systemakkreditierung) und freie Forschung gesetzt. Letzteres Ideal hat es in das deutsche Grundgesetz (und in die Verfassungen anderer europäischer Länder) geschafft, in Art. 5(3): “Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.” Das Triumvirat glaubte fest daran, dass Wissenschaft nur gedeihen kann, wenn sie von äußeren wirtschaftlichen und politischen Einflüssen unabhängig ist. Die beiden wichtigsten “Produkte” (eine Fehlbezeichnung) der Akademie können nicht verkauft werden: Wissen und hochqualifizierte, kritisch denkende Individuen, die in der Lage sind, eine Gesellschaft durch empirisch basierte wissenschaftliche Ansätze weiterzuentwickeln. Meine größte Sorge gilt der Wissenschaft selbst. Sie sucht nach Wahrheit; dies braucht keine Rechtfertigung und dient keinem offensichtlichen Zweck. Die Ideale des Suchens nach Wahrheit in den gegenwärtigen, so genannten postfaktischen Zeiten zu vermitteln ist schwieriger geworden. Der Begriff “postfaktisch” ist irreführend und wird manchmal benutzt, um Wissen zu implizieren, das wertvoller sei als das, was aus Fakten und nüchterner Analyse abgeleitet werden kann. Es ist der Versuch, Entscheidungen ohne Fakten zu treffen, um die Emotionen der Empfänger anzusprechen. Dieser naive Realismus ist Gift für die Wissenschaft, denn ohne Fakten gibt es keine Wahrheit. So V. Gerhardt (HU Berlin): “Das Problem der Wahrheit ist, dass man ihre moralische Bedeutung unterschätzt und ihren metaphysischen Rang überhöht” und “Die modernistische Absage an die Wahrheit kann nur eine Folge der Enttäuschung darüber sein, dass die Wissenschaft nicht schon von sich aus alle Probleme löst.”4 Angesichts der aktuellen weltweiten Konflikte, ausgelöst durch verbale Agitatoren mit ungerechtfertigter Selbstermächtigung, die versuchen, Geschichte mit “Fake News” und alternativen Fakten (die, wie wir alle wissen, nicht existieren) vorzuschreiben, ist es jetzt höchste Zeit, den Wert der Wahrheit zu verteidigen. Der “March for Science” im April 2017 sollte ein Weckruf sein, aber eine einmalige Veranstaltung wird keine nachhaltige Wirkung entfalten. Obwohl sich viele von uns in der politischen Arena unwohl fühlen, sollte jeder von uns für Wissenschaft und Wahrheit eintreten. Viele kleine Schritte helfen. Die korrekte Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse als Ausdrucksform der Bemühungen, wissenschaftliche Einsichten zu dokumentieren, betrifft auch das Publizieren. Wahrheitsgetreue Beschreibungen komplexer wissenschaftlicher Erkenntnisse können und dürfen nicht auf z. B. “A brief teaser statement highlighting main results of the paper […], without jargon or abbreviations […] under 125 characters …”;5 reduziert werden (dieses Zitat hat 128 Zeichen). In ähnlicher Weise mag der beschränkte Inhalt einer Twitter-Nachricht (mit ihren maximal 280 Zeichen) für populistisches “nudging” der öffentlichen Meinung ausreichen, kann aber die Komplexität der Wissenschaft kaum vermitteln. Dies sind Symptome einerseits der Marginalisierung des wissenschaftlichen Aufwands, der in eine Publikation fließt, und der Hyperbolisierung der Ergebnisse andererseits. Abgesehen von ethischen und moralischen Implikationen sind die Autoren selbst oft der letzteren schuldig, indem sie unangemessene Attribute zur Beschreibung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse verwenden. Die Bezeichnung eines “smart molecule” ist keine wahrheitsgetreue Beschreibung eines wissenschaftlichen Befundes, sondern eher ein Werbegag, um Leserschaft anzulocken. Der Wert und die Bedeutung wissenschaftlicher Wahrheit wurden weder durch die Postmoderne noch durch postfaktische Tendenzen überwunden. Nur weil Politik in Wesentlichen Meinungen repräsentiert, heißt dies nicht, dass die Wahrheit irrelevant geworden ist. Ganz im Gegenteil: Der Wert der Wahrheit wächst in schwierigen Zeiten, denn sie ist die Währung der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit für Wissenschaftler/innen. Die Wahrheit ist das innere Korrektiv, auf dem die akademische Freiheit fußt. Lassen sie uns sicherstellen, dass es so bleibt.

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