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Rein ins Land, raus mit der Sprache!

2018; Wiley; Volume: 52; Issue: 3 Linguagem: Alemão

10.1002/ciuz.201870302

ISSN

1521-3781

Autores

Andreas Grohmann,

Tópico(s)

Linguistic Education and Pedagogy

Resumo

Das deutsche Fachwort Firewall bezeichnet ein Sicherungssystem, das einen Computer vor unerwünschten Netzwerkzugriffen schützt. Eine seiner russischen Entsprechungen lautet брaндмáy϶р (brandmáuer). Diese Merkwürdigkeit zeigt uns zweierlei: Zum einen durchdringen sich Sprachen, und Begriffe aus der einen finden Eingang in die andere (oder viele andere); neben der höheren Passgenauigkeit des neuen Ausdrucks spielen historische Umstände eine Rolle, denn auch (Fremd-)Sprachen haben ihre Konjunkturen, und ihr Vordringen kann Herrschaftsverhältnisse spiegeln. Zum anderen nehmen Sprachen heute – und das Deutsche bildet keine Ausnahme – Begriffe aus dem Englischen auch dann auf, wenn sie dafür eine an sich völlig adäquate «eigene» Entsprechung haben. Die historische Durchdringung von Sprachen in Bereichen, in denen ihre jeweiligen Muttersprachler (und Vatersprachlerinnen!) miteinander leben, lässt sich sowohl geographisch als auch gesellschaftlich entschlüsseln und ist ein Faszinosum eigener Art, welches wir hier gleichwohl nicht weiter verfolgen können: „Wer in mehreren Sprachen lebt, der ist vielleicht auf vielfältigere Weise Mensch“ (Tomáš G. Masaryk). Uns interessiert an dieser Stelle die zweite der oben genannten Gegebenheiten: Dass in den nicht-anglophonen Ländern die Muttersprache heute gegenüber dem Englischen de facto an Bedeutung verliert. Die Neu-Tarierung Deutsch/Englisch hat mittlerweile alle Bereiche unseres Alltagslebens erfasst. Ein einziges Beispiel aus dem Feuilleton mag dies illustrieren: Kamen sämtliche Filme Charlie Chaplins seinerzeit unter einem eigenen deutschen Titel in die hiesigen Kinos (so z. B. Pay Day von 1922 als Zahltag), so ist Pay Day im Jahr 2018 der deutsche Titel eines US-amerikanischen Films, der im Original The Debt Collector heißt. Gleichwohl waren die (englischsprachigen) Filme damals deutsch synchronisiert, und sind es auch heute – noch. Szenenwechsel: Die Angewandte Chemie ist eine traditionsreiche, seit 1887 erscheinende deutsche Fachzeitschrift. (In jenem Jahr war Albert Einstein noch keine 10 und Sigmund Freud gerade 31 Jahre alt.) Schon vor über 55 Jahren, 1962, begann die Redaktion der Angewandten Chemie allerdings mit der parallelen Ausgabe einer englischsprachigen Version (Angew. Chem. Int. Ed. Engl., wie sie damals – noch – abgekürzt wurde). Innerhalb eines Dreivierteljahrhunderts hatten sich – nicht zuletzt infolge deutschen Wahns – die Gewichte verschoben, und die Redaktion reagierte auf ein nüchtern zu konstatierendes Faktum: Die Bedeutung von Deutsch als Wissenschaftssprache hatte zu verblassen begonnen. Wurden englischsprachige Manuskripte zunächst für die deutsche Ausgabe noch übersetzt, publiziert heute Angew. Chem. Originalarbeiten nur dann noch auf Deutsch, wenn auch die eingereichten Manuskripte in dieser Sprache verfasst sind. Cut: Abraham Pais schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe seiner wissenschaftlichen Biographie Albert Einsteins (Subtle is the Lord; dt.: Raffiniert ist der Herrgott …, Vieweg, Wiesbaden 1986): „… In den neun Jahren meiner persönlichen Bekanntschaft mit Einstein sprachen wir stets Deutsch, die Sprache, in der er Zeit seines Lebens dachte und fühlte. […] Meiner Meinung nach war Einsteins feines Sprachgefühl sein zweitgrößtes Talent, es wird nur von seiner physikalischen Begabung übertroffen. Meines Erachtens ist die Lektüre der Schriften Einsteins und Freuds im Original genügend Grund, die deutsche Sprache zu erlernen.“ Dem sei hier ein Zitat des zeitweiligen EU-Kommissars für Digitalisierung und Wirtschaft, Günther Oettinger, gegenübergestellt. In dem Fernsehfilm „Wer rettet die deutsche Sprache?“ von Harald Woetzel sagte er schon 2005: „Deutsch bleibt die Sprache der Familie, der Freizeit, die Sprache, in der man Privates liest, aber Englisch wird die Arbeitssprache. […] Das wird die entscheidende kommunikative Aufgabe der nächsten Jahre sein.“ Inzwischen sind an deutschen Universitäten englischsprachige (Master-)Studiengänge Chemie eingeführt, von denen einige (so z. B. laut Internet-Selbstauskunft an der Universität Bonn) kein deutschsprachiges Gegenstück mehr haben. Auf diese Weise sollen attraktive Angebote für ausländische Studierende gemacht werden; inwieweit auch Studierende mit Erstsprache Deutsch (oder Englisch) das Angebot nutzen und wie sie davon profitieren, sei dahingestellt. Jedenfalls wird an vielen anderen Hochschulen, z. B. auch der TU Berlin, über die baldige Schaffung bzw. Erweiterung vergleichbarer Angebote nachgedacht. Es steht außer Frage, dass Internationalisierung nur auf der Basis einer allen gemeinsamen Verkehrssprache gelingen kann. Ebenso außer Frage steht, dass diese Rolle dem Englischen zukommt. Drittens tun wir gut daran, denjenigen, die sich in der Welt frei bewegen wollen (bzw. beruflich gar keine andere Wahl mehr haben werden), immer bessere und früher einsetzende Sprachlernangebote zu machen – vergleichbar etwa der Praxis in den skandinavischen Ländern oder den Niederlanden (wo im Übrigen englischsprachige Kino- und Fernsehproduktionen nicht synchronisiert, sondern allenfalls mit Untertiteln versehen werden). Sprachen lernen wir allerdings dort am besten, wo sie natürlich gesprochen werden. Englischsprachige Länder gibt es viele, und gute Sprachschulen sind zahlreich. Der beherzigenswerte Slogan für Studierende heute, mit dem auch eine Sprachschule in Berlin warb, lautet also: „Rein ins Land, raus mit der Sprache“ – spätestens für ein oder zwei Auslandssemester, und am besten gefördert durch ein adäquat ausgestattetes Stipendium der entsendenden Hochschule. Ich plädiere aber auch dafür, dass etwa an deutschen Universitäten neben dem Englischen das Deutsche als gleichberechtigte Arbeits- und Wissenschaftssprache erhalten bleibt. Mit anderen Worten: Akademische (Aus-)Bildung, wie sie Universitäten zu bieten verpflichtet sein sollten, muss künftig Absolventinnen und Absolventen hervorbringen, die in ihrem gewählten Fach sattelfest und hinsichtlich ihrer sprachlichen Fähigkeiten „mindestens doppelt“ sind, keinesfalls „halb“. „Mindestens doppelt“ heißt, dass neben fließendem Deutsch und Englisch noch weitere Sprachen zur Qualifikation hinzukommen mögen, und „halb“ hieße, weder auf Englisch noch auf Deutsch bzw. in einer anderen Muttersprache mehr tief über Dinge nachdenken und die Ergebnisse mündlich oder schriftlich verständlich vortragen zu können. Wie erführen wir als Bürger in unserem Land in der Breite von neuen Entwicklungen in den (Natur-)Wissenschaften, für die wir keine deutschen Worte mehr hätten? Was bedeutete dies für die öffentliche Debatte, die politische Teilhabe und letztlich die Demokratie? Nach unserer heutigen Vorstellung ist Mehrsprachigkeit, im Kontext von Globalisierung und Internationalisierung, eine Bereicherung: Sie ist sinnverwandt mit Pluralität, Interkulturalität, Diversität und Weltoffenheit. Sie erschließt im Sinne des Satzes 4.116 des Tractatus logico-philosophicus Ludwig Wittgensteins neue Räume: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Erzwingen dürfen wir Mehrsprachigkeit bei Bürgern, für die globalisierte Berufstätigkeit keine attraktive Perspektive ist, allerdings nicht. Wir hören von ausländischen Promovenden und Postdoktoranden in Deutschland heute, die bar funktionaler deutscher Sprachkenntnisse sind und ihre Sprachprobleme bei der Rezeption auf Englisch verfasster wissenschaftlicher Aufsätze „lösen“, indem sie die (elektronischen) Artikel durch Google Translator in ihre Muttersprache übersetzen lassen – ohne die Befähigung zu eigenverantwortlicher Qualitätskontrolle. Hier wird akademische Ausbildung ad absurdum geführt, da sie keine Mündigkeit mehr einfordert. Solcherlei „Ausbildung“ zu bieten und gar zu exportieren liegt nicht im Interesse einer Gesellschaft, der die Errungenschaften der Aufklärung teuer sein sollten – gerade weil Vorväter (und –mütter!) diese Errungenschaften eine Zeitlang mit Füßen traten und manche Zeitgenossen dies auch heute wieder tun. In diesem Sinne ist übrigens die Chemie in unserer Zeit als Bewahrerin der deutschen chemischen (Wissenschafts-)Sprache auch eine Verteidigerin von Mündigkeit. Andreas Grohmann Andreas Grohmann ist Professor für Bioanorganische Chemie an der TU Berlin und Mitglied des ChiuZ-Kuratoriums.

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