Erwachsene mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen
2019; Hogrefe Verlag; Volume: 8; Issue: 3 Linguagem: Alemão
10.1024/2235-0977/a000271
ISSN2235-0985
AutoresCordula Löffler, Marlies Lipka, Michael von Aster,
Tópico(s)Language Development and Disorders
ResumoFree AccessErwachsene mit geringen Lese- und SchreibkompetenzenCordula Löffler, Marlies Lipka, and Michael von AsterCordula LöfflerSearch for more papers by this author, Marlies LipkaSearch for more papers by this author, and Michael von AsterSearch for more papers by this authorPublished Online:July 12, 2019https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000271PDF ToolsAdd to favoritesDownload CitationsTrack Citations ShareShare onFacebookTwitterLinkedInReddit SectionsMoreEin beachtlicher Teil der Bevölkerung in Deutschland verfügt über so geringe Lese- und Schreibkompetenzen, dass eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschwert ist. Die leo.-Level-One-Studie 2010 (Grotlüschen & Rieckmann, 2012) lieferte erstmalig belastbare Zahlen zum Ausmaß des funktionalen Analphabetismus in Deutschland. Während es bis zu diesem Zeitpunkt lediglich Schätzungen gab, wies LEO 2010 nach, dass in Deutschland 7,5 Millionen Deutsch sprechende funktionale Analphabet_innen leben, von denen 4,4 Millionen (58 %) Deutsch als Erstsprache erworben haben (Grotlüschen & Rieckmann, 2012, S. 27).Für die Studie wurden Niveaustufen der Schriftsprachkompetenz, sogenannte Alpha-Level ausdifferenziert: Personen auf Alpha-Level 1 können Buchstaben lesen und schreiben, Personen auf Alpha-Level 2 gelingt dies auf Wortebene. Wer auf Satzebene lesen und schreiben kann, befindet sich auf Alpha-Level 3. Proband_innen, die in LEO 2010 diesen drei unteren Levels zugeordnet wurden, gelten als funktionale Analphabet_innen; von der repräsentativen Gesamtstichprobe (n = 8436, Alter 18 – 64 Jahre) waren dies 14,5 %, hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung entsprechend 7,5 Millionen Menschen. Weitere 25,9 % der Stichprobe verfügten über Fähigkeiten auf Alpha-Level 4, waren also in der Lage, kurze Texte fehlerhaft zu lesen und zu schreiben (Grotlüschen & Rieckmann, 2012, S. 23).Die Zahlen führten in Bevölkerung und Bildungspolitik nicht nur zu Erstaunen oder sogar Entsetzen, sondern auch zu weiterführender Forschung und dem Ausbau von Grundbildungsangeboten, insbesondere im Rahmen betrieblicher Weiterbildung (www.alphabund.de). Ausgerufen wurde zudem die „Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung“, ein Zusammenschluss von Bund, Ländern und weiteren Partnern mit dem Ziel, im Zeitraum von 2016 bis 2026 die Lese- und Schreibfähigkeiten Erwachsener in Deutschland deutlich zu verbessern (www.alphadekade.de).Anfang Mai 2019 wurden nun die Zahlen der LEO-Studie 2018 (Grotlüschen, Buddeberg, Dutz, Heilmann & Stammer, 2019) vorgelegt, verbunden mit einer Veränderung der Begrifflichkeit. Auf den viel kritisierten Begriff des funktionalen Analphabetismus (vgl. dazu Löffler, 2014) wird verzichtet, ersetzt wird der Begriff durch den der geringen Literalität. Entsprechend werden Menschen, deren Fähigkeiten auf den Alpha-Levels 1 – 3 liegen, als gering literalisierte Erwachsene bezeichnet (Grotlüschen et al., 2019, S. 4 f.). Deren Anzahl ist laut der neuen Studie zurückgegangen: Von den 7.192 Proband_innen im Alter von 18 – 64 Jahren befinden sich 0,6 % (LEO 2010: 0,6 %) auf Alpha-Level 1, auf Alpha-Level 2 sind es 3,4 % (LEO 2010: 3,9 %), auf Alpha-Level 3 8,1 % (LEO 2010: 10,0 %); der Prozentsatz gering literalisierter Erwachsener beträgt laut LEO 2018 also insgesamt 12,1 %, der Unterschied zu LEO 2010 (14,5 %) ist signifikant (Grotlüschen et al., 2019, S. 6).Auf den ersten Blick sind diese Zahlen erfreulich. Doch darf man nicht schlussfolgern, die Proband_innen von 2010 hätten zwischenzeitlich lesen und schreiben gelernt. Zum einen handelt es sich nicht um dieselben Personen, zudem besucht von den gering literalisierten Erwachsenen auch nur ein geringer Teil, nämlich ca. 1 %, entsprechende Grundbildungsangebote. Zum anderen muss man die Zahlen, insbesondere die Stichproben genauer betrachten. An beiden Erhebungen nahmen Deutsch sprechende Erwachsene im Alter von 18 – 64 Jahren teil. In LEO 2010 lag der Anteil der gering literalisierten Erwachsenen in der Gruppe der 50- bis 64-Jährigen bei 15,7 % (Grotlüschen & Rieckmann, 2012, S. 25), in dieser Altersgruppe war der Anteil gering Literalisierter im Vergleich zu den anderen Altersgruppen am größten. Dagegen lag der Anteil gering Literalisierter in der Altersgruppe der 18 – 29-Jährigen in LEO 2010 bei 12,6 %. In LEO 2018 fällt die Altersgruppe mit dem höchsten Anteil gering Literalisierter zugunsten einer jungen Probandengruppe mit einem vergleichsweise niedrigen Anteil gering Literalisierter heraus. Abbildung 1 zeigt eine vergleichende Aufschlüsselung der Ergebnisse nach Geburtsjahrgängen, die Rückgänge innerhalb der jeweiligen Jahrgangsgruppen sind statistisch nicht signifikant (Grotlüschen et al., 2019, S. 15). Dass der Anteil gering Literalisierter bei der jüngsten Probandengruppe am niedrigsten ist, könnte mit Blick auf das deutsche Bildungssystem positiv stimmen, dafür sind die Zahlen gering Literalisierter aber immer noch zu hoch. Von den jungen Erwachsenen, die unser Bildungssystem ohne Abschluss verlassen haben, gelten in der LEO-Studie 2018 mehr als die Hälfte, genau 54,5 % (LEO 2010: 59 %) als gering literalisiert, von den Erwachsenen mit niedrigem Schulabschluss sind es 21,5 % (LEO 2010: 23,1 %), also etwa ein Fünftel. Wenn Schüler_innen am Ende ihrer Schullaufbahn über geringere Lese- und Schreibfähigkeiten verfügen als ein durchschnittlicher Zweitklässler, haben die Unterstützungssysteme in unserem Bildungssystem offensichtlich versagt.Cordula LöfflerAbbildung 1 Anteil der gering literalisierten Erwachsenen (Alpha-Levels 1 – 3) an den verschiedenen Altersgruppen im Vergleich zwischen 2010 und 2018 (Grotlüschen et al. 2019, S. 15). Lesebeispiel: „2018 waren bevölkerungsweit 12,1 Prozent der Erwachsenen gering literalisiert. Unter den Personen, die zwischen 1983 und 1992 geboren wurden, beträgt dieser Anteil 10,7 Prozent.“Inhalte der aktuellen AusgabeIn der aktuellen Ausgabe finden Sie einen Beitrag im Fokus Anwendung und vier Beiträge im Fokus Forschung.Im Fokus Anwendung greift Ruth Hoffmann-Erz (2019) das kontrovers diskutierte Thema des Grundwortschatzes und seine umstrittene Nutzung im schulischen Rahmen engagiert auf. Sie beschreibt Konzepte und Methoden seiner Verwendung für den schulischen Schriftspracherwerb und begründet neue Entwicklungen für die Arbeit mit Grundwortschätzen.Drei Beiträge im Fokus Forschung widmen sich dem Themenfeld des Rechnen Lernens und seiner Erschwerungen. Svenja Moraske und Mitautoren (2019) stellen Ergebnisse einer Studie vor, mit der bemerkenswert positive Effekte einer Förderung mathematischer Basiskompetenzen im der Vorschulalter bei sogenannten Risikokindern nachgewiesen werden konnten. Das Training konnte die Wahrscheinlichkeit, bis zur dritten Klasse eine Rechenschwäche zu entwickeln beträchtlich verringern.Der Beitrag von Werner, Masius, Ricken und Hänel-Faulhaber (2019) widmet sich der Frage, wie gehörlose und hörbehinderte Kinder mathematisches Wissen erwerben, und wie sie sich in dieser Hinsicht von normal hörenden Kindern unterscheiden. Für die Erfassung der mathematischen Kompetenzen der gehörlosen Kinder kam ein Testverfahren zum Einsatz, das erstmals für die Deutsche Gebärdensprache adaptiert wurde. Der bereits beschriebene Entwicklungsrückstand gehörloser Kinder im mathematischen Bereich wurde bestätigt und mit sprachlichen Entwicklungsprozessen in Zusammenhang gebracht.Die Untersuchung von Busch, Schmidt, Studte und Grube (2019) geht der wichtigen Frage nach differentiellen Zusammenhängen zwischen der Rechenleistung, den Arbeitsgedächtnisleistungen, den Leistungen bei (non-)symbolischen Mengenvergleichen und dem arithmetischen Faktenwissen bei rechenschwachen Kindern nach. Die Autoren diskutieren ihre aufschlussreichen Ergebnisse mit Bezug zu der diesbezüglich durchaus heterogen Befundlage und zu möglichen pädagogisch-psychologischen Implikationen.EEG-Neurofeedback wird das Stichwort eines unserer nächsten Themenhefte sein. Diese Methode kann inzwischen als evidenzbasierte Alternative zur pharmakologischen Behandlung insbesondere bei Kindern mit ADHS angesehen werden. Aber dass neuroplastische Veränderungen auch bis ins hohe Alter möglich sind, ist keine hohle Phrase. Kaufmann, Wood, Robertson, Marksteiner und Kober (2019) präsentieren in dieser Ausgabe mit ihrem englischen Beitrag einen Fallbericht über eine beeindruckend erfolgreiche Neurofeedback-Behandlung einer Patientin im Seniorenalter mit neurodegenerativer Symptomatik.Mit dieser hoffnungsvollen Aussicht wünschen wir unseren Leserinnen und Lesern eine spannende und anregende Lektüre!Marlies Lipka und Michael von AsterLiteratur Busch, J., Schmidt, C., Studte, S. & Grube, D. (2019). Kognitive Merkmale rechenschwacher Kinder in Abhängigkeit vom Cut-off Kriterium. Lernen und Lernstörungen, 8, 167–178. Abstract, Google Scholar Grotlüschen, A., Buddeberg, K., Dutz, G., Heilmann, L. & Stammer, C. (2019). LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Pressebroschüre, Universität Hamburg. Verfügbar unter http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo. Google Scholar Grotlüschen, A. & Riekmann, W. (Hrsg.) (2012). Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo.-Level-One-Studie. Münster: Waxmann. Google Scholar Grotlüschen, A., Riekmann, W. & Buddeberg, K. (2012). Hauptergebnisse der leo. - Level-One Studie. In Grotlüschen, A.Riekmann, W. (Hrsg.), Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo.-Level-One-Studie (S. 13 – 53). Münster: Waxmann. Google Scholar Hoffmann-Erz, R. (2019). Die Wiederentdeckung des Grundwortschatzes – Darstellung einer erneuerten Konzeption. Lernen und Lernstörungen, 8, 133 – 140. Abstract, Google Scholar Kaufmann, L., Wood, G., Robertson, M., Marksteiner, J. & Kober, S.E. (2019). EEG-neurofeedback as a training for cognitive and non-cognitive functions in early dementia: a case report. Lernen und Lernstörungen, 8, 179 – 189. Abstract, Google Scholar Löffler, C. (2014). Lerntherapie zur Prävention von funktionalem Analphabetismus. Lernen und Lernstörungen, 3, 269 – 279. Link, Google Scholar Moraske, S., Wyschkon, A., Poltz, N., Kohn, J., Kucian, K., von Aster, M. & Esser, G. (2019). Indizierte Prävention von Rechenschwächen im Vorschulalter: Effekte bis Klasse 3. Lernen und Lernstörungen, 8, 141 – 153. Link, Google Scholar Werner, V., Masius, M., Ricken G. & Hänel-Faulhaber, B. (2019). Mathematische Konzepte bei gehörlosen Vorschulkindern und Erstklässlern – Erste Erkenntnisse aus einer deutschen Pilotstudie. Lernen und Lernstörungen, 8, 155 – 165. Abstract, Google ScholarProf. Dr. Cordula Löffler, Pädagogische Hochschule Weingarten, Fach Deutsch mit Sprecherziehung, Kirchplatz 2, 88250 Weingarten, loeffler@ph-weingarten.deFiguresReferencesRelatedDetails Volume 8Issue 3Juli 2019ISSN: 2235-0977eISSN: 2235-0985 InformationLernen und Lernstörungen (2019), 8, pp. 129-131 https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000271.© 2019Hogrefe AGPDF download
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