Artigo Acesso aberto Revisado por pares

Reaktionsprozesse und Kinetik.

2020; Wiley; Volume: 28; Issue: 2 Linguagem: Alemão

10.1002/ckon.202000060

ISSN

1521-3730

Autores

Herbert Mayr,

Tópico(s)

Chemistry and Chemical Engineering

Resumo

Liebe Leserinnen und Leser, das Messen ist mit der Entwicklung der menschlichen Zivilisation untrennbar verbunden, denn seit jeher erfordern Handel, Bauwesen und Landvermessung die Quantifizierung von Länge, Fläche, Volumen und Masse. Messungen waren auch der Schlüssel für die Entwicklung der exakten Naturwissenschaften. Durch quantitative Analyse von Bewegungsvorgängen gelangte Isaac Newton zu der Erkenntnis, dass das Fallen eines Apfels vom Baum durch die gleichen Kräfte bestimmt wird wie die Planetenbewegung. Mit seinen drei Bewegungsgesetzen begründete er daraufhin in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die klassische Physik. Wiederum waren es Messungen, die den Übergang von der phänomenologisch orientierten Alchimie zur modernen Chemie auslösten. Als Lavoisier in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Waage als Präzisionsinstrument einsetzte und feststellte, dass die Verbrennung von Stoffen generell mit einer Gewichtszunahme verbunden war, entthronte er die damals vorherrschende Phlogiston-Theorie, da das beim Verbrennen freigesetzte Phlogiston eine negative Masse haben müsste. Mit der daraus abgeleiteten Unterscheidung von Elementen und chemischen Verbindungen hatte die Geburtsstunde der modernen Chemie geschlagen. Doch wozu misst man die Geschwindigkeit chemischer Reaktionen? Noch während der alchimistischen Periode, parallel zu Newtons Arbeiten, führte Robert Boyle bereits Messungen zum Verhalten von Gasen durch. Wie ein exzellenter Rückblick von Walter Jansen in diesem Heft beschreibt, wurden diese Studien im 18. und 19. Jahrhundert konsequent fortgesetzt. Obwohl dabei auch die Kinetik organisch chemischer Reaktionen in Lösung untersucht wurde, fanden diese Arbeiten bei Organischen Chemikern kaum Beachtung, wie Louis Plack Hammett, der Begründer der Physikalischen Organischen Chemie, beschreibt (Hammett L. P., J. Chem. Educ. 1966, 43, 464–469): “For a time, it was almost a point of honor with both physical and organic chemists to profess ignorance of the others field. To many physical chemists in the 1920s and early 1930s, the organic chemist was a grubby artisan engaged in an unsystematic search for new compounds, a search which was strongly influenced by the profit motive. And indeed I remember the remark of one prominent organic chemist that the great joy of organic chemistry was that one might start out to make a perfume and end up with a dye or a drug.” Die Situation änderte sich grundlegend, als Ende der 1920er-Jahre Christopher Ingold durch Untersuchung der Mechanismen elektrophiler aromatischer und nucleophiler aliphatischer Substitutionen die Elektronische Theorie der Organischen Chemie begründete. Die von ihm in den frühen 1930er-Jahren beschriebene Differenzierung von SN2- und SN1-Reaktionen ist noch heute das Paradebeispiel, um die Aufklärung von Reaktionsmechanismen durch kinetische Messungen zu demonstrieren. Ingold erkannte die Tragweite dieser Befunde und postulierte im Jahr 1934 (Ingold C. K., quoted by Barton D. H. R., Bull. Hist. Chem. 1996, 19, 43–47): “The new work made it inescapably clear that the old order in organic chemistry was changing, the art of the subject diminishing, its science increasing: no longer could one just mix things: sophistication in physical chemistry was the base from which all chemists, including the organic chemist, must start.” Kinetische Messungen spielten in den folgenden Jahrzehnten eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung des mechanistischen Modells der Organischen Chemie, das die anschließende stürmische Entwicklung neuer synthetischer Methoden ermöglichte. Die klassischen kinetischen Methoden, die auf der Verfolgung der zeitlichen Veränderung spektroskopischer Eigenschaften (UV-Vis, IR, NMR), der optischen Drehung oder der Leitfähigkeit des Reaktionssystems beruhen, wurden mit neuen Mischtechniken (stopped flow) kombiniert, sodass auch in wenigen Millisekunden verlaufende Reaktionen vermessen werden können. Noch schnellere Reaktionen lassen sich durch die von Manfred Eigen eingeführten Relaxationsmessungen bestimmen. Zur Untersuchung sehr schneller Reaktionen werden heute bevorzugt Lasertechniken eingesetzt. Hierbei werden durch einen kurzen intensiven Lichtpuls hochreaktive Spezies – wie Ionen, Radikale oder elektronisch angeregte Zustände – erzeugt, deren Zerfall (meist durch UV-Vis-Spektroskopie) direkt verfolgt wird. Durch Femtosekunden-Spektroskopie gelang sogar die direkte Beobachtung von Übergangszuständen. Mithilfe massenspektroskopischer Verfahren, wie ICR, lassen sich Ionenreaktionen auch in der Gasphase kinetisch verfolgen. Vergleich mit der Kinetik in Lösung ermöglicht die quantitative Erfassung von Solvatationseffekten. Gasphasenkinetik spielt auch für die Untersuchung der Atmosphärenchemie und den damit verbundenen Klimawandel eine wichtige Rolle. Kinetische Messungen bilden somit eine wesentliche Grundlage für unser Verständnis vom molekularen Ablauf chemischer und biochemischer Transformationen. Sie sind aber auch von größter praktischer Bedeutung, denn die Durchführung großtechnischer Prozesse wird entscheidend durch die Geschwindigkeit der dabei ablaufenden Prozesse bestimmt. Untersuchungen der Kinetik katalysierter Reaktionen, die auch bei der Entwicklung der Wasserstofftechnologie im Rahmen der Energiewende eine Rolle spielen, sind eine Herausforderung für künftige Generationen. Herbert Mayr ist pensionierter Professor für Organische Chemie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Für seine Arbeiten zur Erstellung von Nucleophilie- und Elektrophilie-Skalen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.

Referência(s)
Altmetric
PlumX