Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung by Heiko Christians

2023; Volume: 30; Issue: 1 Linguagem: Alemão

10.1353/gyr.2023.0020

ISSN

1940-9087

Autores

Renata Fuchs,

Tópico(s)

Libraries and Information Services

Resumo

Reviewed by: Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung by Heiko Christians Renata T. Fuchs Heiko Christians. Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung. Cologne: Böhlau, 2020. 425 pp. + 1 b/w illustration. In seinem Buch Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung fragt Heiko Christians, was die "einst buchgestützte" historisch-ästhetische, literarische Bildungsidee unter digitalen Bedingungen bedeutet. Denn mit dem Medienwandel stehe "eine identitätsbildende Tradition auf dem Spiel." Den Umgang mit Büchern rechnete man der Sphäre des Geistes zu, nicht der Technik. Heute hat aber eine völlig neue Umgebung technischer Netzwerke die Formate der alten Bildungsidee marginalisiert. Es handelt sich um maximale Schnelligkeit, grenzenlose Verfügbarkeit und optimale Zugangsbedingungen für möglichst viele. Letztendlich sollen digitale Infrastrukturen soziale, ökonomische und politische Ungleichheit unterbinden. Für den Potsdamer Medienwissenschaftler Heiko Christians ist dieser kritische Befund ein Anlass, Geschichte und Tradition der Bildung erneut in [End Page 183] Betracht zu ziehen. Das Buch will deshalb nicht zuletzt die Frage historisch (Teil 1: Die Geschichte und Die Gegenwart) und technisch (Teil 2: Die Bildungsdebatte. Eine Inventur) differenziert beantworten, was Medienbildung im Kern ausmacht. Die beiden Teile müssen nicht streng nacheinander gelesen werden. Der erste Teil führt direkt zum Titel des Buches. Denn zu den Umgebungen von Bildung, meint Christians, gehört seit der Frühen Neuzeit auch die Unterhaltung. Heute sind die Bereiche Bildung und Unterhaltung so zusammengeschmolzen, dass zentrale Element des Gamens-wie etwa scoring oder die levels-in den Rahmen von Bildung einfügt werden. Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre deutet allerdings die Unmöglichkeit einer klaren Differenzierung des schweren Bildungsstoffs und der leichten Unterhaltung an. Bildung als Methode war in erster Linie ein bildendes Lesen, die wiederholte Lektüre weniger kanonischer Texte. In der Zeit um 1800 erlaubte die Romanproduktion einmaliges Lesen vieler Bücher. Die Forderung nach der gezielten Beschäftigung mit wenigen auserlesenen Büchern war ganz und gar nur im Kontext einer "schnelleren medialen Umgebung" realisierbar. Bildungsromane wie Goethes Wilhelm Meister erreichten ihren Erfolg dank denselben medialen Infrastrukturen wie die sogenannte Trivialliteratur. Der zweite Teil legt die Bildungsdebatte als eine Inventur dar. Bildung sei nicht einfach die Summe des Bewahrens- und Wissenswerten, sondern zunächst eine spezifische kulturelle Technik, die sich schon um 1800 etablierte. Christians technischer Blick erlaubt vermeintlich neueste Phänomene medienhistorisch einzuordnen. Unter dem Namensbanner Wilhelm Meister wird ein etabliertes Vokabular kulturhistorisch verortet und ein aktuelles medienwissenschaftlich in Augenschein genommen. Christians prüft Inventur des aktuellen bildungspolitischen Vokabulars—von der "Bildungs-App" und dem "Bildungsmarkt" über die "Bildungsreform," die "Bildungsindustrie" das "spielerische Lernen" bis zur Bildungsregulierung—und als Befragung der zugehörigen Kulturtechniken (etwa applizieren, fabrizieren, [re]produzieren, [re]organisieren, betreiben, [re]interpretieren, konzentrieren, kompetent sein) auf ihre Signifikanz und Provenienz. Ein traditionelles bildendes Lesen ist laut Christians unter digitalen Bedingungen nur noch schwer zu realisieren. Mit den Medien haben sich die Gebrauchspraktiken verändert. Persönlichkeitsbildung ist zwar noch immer eine Aspiration von Bildungsprogrammen, aber mit dem Buch hat sie wenig zu tun. Bei aller Kritik an "selbst ernannten Medienphilosophen" und "abstraktionswilligen Pädagogen" verfällt Christians an keiner Stelle in öde Kulturkritik oder Sehnsucht nach Vergangenheit. Eine "Diskussion über die gängigen Medienpraktiken" muss in den Bildungsinstitutionen etabliert und fortgesetzt werden. Die Geschichte der Netzwerkmedialität sowie auch das Praktische Vorgehen bei dem analogen Bücherlesen müssen neben Programmieren gelehrt werden. Nur über einen historisierenden Blick auf aktuelle Techniken werde es realisierbar, erneut jene "verlangsamende Reflexionsspanne" in die Institutionen integrieren, die einst Bildung hieß. Die Stärke Christians "Inventur" liegt darin, dass sie differenziert und anspruchsvoll argumentiert und polemisiert, derzeitige Forschung in Betracht zieht, dabei aber ständig unterhaltsam bleibt und im Grunde Lesevergnügen bereitet. Der Leser wird zur einer Zeitreise eingeladen, die in der Antike anfängt und im 21. Jahrhundert endet. Neben den Philosophen Schelling, Schleiermacher, Schlegel, und Sloterdijk werden auch Politiker, Prominente, und Künstler, wie [End Page 184] Emmanuel Macron, Elon Musk, und Andy Warhol, erwähnt. Zitiert werden nicht nur Stellen aus verschiedenen literarischen Werken, wie z. B. diejenigen von Platon, Aristoteles, Sophokles, aber auch aus einem Lied von Frank Zappa: "Information is not knowledge. Knowldege is not wisdom. Wisdom is not truth...

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