Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass eine Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) eine Behinderung ist
2024; Hogrefe Verlag; Volume: 52; Issue: 1 Linguagem: Alemão
10.1024/1422-4917/a000969
ISSN1664-2880
AutoresGerd Schulte‐Körne, Johannes Mierau,
Tópico(s)Pharmaceutical studies and practices
ResumoFree AccessBundesverfassungsgericht stellt fest, dass eine Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) eine Behinderung istGerd Schulte-Körne and Johannes MierauGerd Schulte-KörneRechtsanwalt Dr. Johannes Mierau, Schönbornstrasse 2, 97070 Würzburg, Deutschland[email protected]Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, LMU-Klinikum, Campus Innenstadt, München, DeutschlandSearch for more papers by this author and Johannes MierauRechtsanwälte Dr. Vocke & Partner, Würzburg, DeutschlandSearch for more papers by this authorPublished Online:January 05, 2024https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000969PDF ToolsAdd to favoritesDownload CitationsTrack Citations ShareShare onFacebookTwitterLinkedInReddit SectionsMoreDas Bundesverfassungsgericht hat am 22.11.2023 (1 BvR 2577 die Legasthenie als Behinderung im Sinne des Grundgesetzes anerkannt. Nachfolgend Ausführungen zu Inhalten, der Begründung und der fachlichen Bedeutung des Urteils. Beide Autoren waren am Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beteiligt.1.Am 22.11.2023 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) (1 BvR 2577/15, 1 BvR 2579/15, 1 BvR 2578/15) über einen Zeugnisvermerk geurteilt, gegen den bayerische Abiturienten bereits 2011 geklagt hatten und jetzt Recht bekamen. Der Zeugnisvermerk („Auf Grund einer fachärztlich festgestellten Legasthenie wurden Rechtschreibleistungen nicht bewertet“) muss aus ihren Zeugnissen entfernt werden. Bereits zuvor hatte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof 2013 den Freistaat Bayern rechtskräftig verpflichtet, den Hinweis auf die Legasthenie im Zeugnis zu entfernen. Dieses Urteil wurde 2015 vom Bundesverwaltungsgericht geändert mit der Begründung, dass die Zeugnisbemerkung nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verstoße („Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“). Jetzt hat aber das BVerfG festgestellt, dass durch den Zeugnisvermerk die jungen Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung in mehrfacher Hinsicht im Sinne des Grundgesetzes diskriminiert werden.2.Dazu hat das BVerfG zunächst geprüft, ob es sich bei der fachärztlich diagnostizierten Lese- und Rechtschreibstörung um eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG handelt. Es wird ausgeführt, dass „eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne vorliegt, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Geringfügige Beeinträchtigungen sind nicht erfasst, sondern nur Einschränkungen mit Gewicht. Auf den Grund der Behinderung kommt es nicht an. Geschützt sind auch chronisch oder psychisch Kranke, wenn sie längerfristig und gewichtig beeinträchtigt sind.“ (Rn. 36, Urteil des BVerfG vom 22.11.2023).Das BVerfG stützt sich bei der Prüfung der Frage, ob es sich bei der Lese- und Rechtschreibstörung um eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne handelt im Wesentlichen auf die Ausführungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, die in der mündlichen Verhandlung am 28. Juni 2023 in Karlsruhe vorgetragen wurden. Das Gericht hält zur Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) folgendes fest:•„Legasthenie [ist eine Störung, bei der] die Defizite im Lesen und Schreiben nicht auf Ursachen ohne Krankheitswert wie etwa einer geringen Begabung, fehlenden Lerngelegenheiten oder unzureichenden Sprachkenntnissen, sondern auf einer medizinisch messbaren neurobiologischen Hirnfunktionsstörung und damit auf einem regelwidrigen körperlichen Zustand [beruhen]“ (Rn. 42).•„Die Symptome der neurobiologischen Funktionsstörung, nämlich eine deutliche Verlangsamung des Lesens, Schreibens und Textverständnisses und weit unterdurchschnittliche Rechtschreibfähigkeiten [halten] längerfristig regelmäßig sogar lebenslang an. Die damit verbundenen Einschränkungen einer individuellen und selbstbestimmten Lebensführung sind zudem gewichtig. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung gilt dies insbesondere während der Schulzeit“ (Rn. 43).•„Die erheblichen psychischen Erkrankungen, die bei Schülern mit einer Legasthenie weit überdurchschnittlich auftreten, [gehören] selbst nicht zum Krankheitsbild der Legasthenie. Sie machen aber doch deutlich, welchen Belastungen legasthene Schüler ausgesetzt sind, wenn ihre Defizite beim Lesen, Schreiben, dem Verständnis von Texten und der Rechtschreibung angesichts der schulischen Anforderungen zutage treten“ (Rn. 43).•„Eine besonders schwerwiegende Beeinträchtigung selbstbestimmter Lebensführung stellt der Umstand dar, dass Schülerinnen und Schüler mit einer Legasthenie die Schule weit häufiger abbrechen und das Gymnasium weit unterdurchschnittlich häufig besuchen, obwohl die Legasthenie die intellektuellen Fähigkeiten nicht berührt“ (Rn. 43).•„Die Legasthenie kann die davon Betroffenen somit in erheblichen Umfang daran hindern, sich entsprechend ihrer allgemeinen Begabung in Schule, Ausbildung und Beruf zu entfalten. Angesichts der in allen Lebensbereichen vorherrschenden Schriftlichkeit der Kommunikation muss schließlich angenommen werden, dass die Verlangsamung des Schreibens, Lesens und des Textverständnisses sowie die Defizite in der Rechtschreibung die Lebensführung auch der Personen mit einer Legasthenie auf vielfältige Weise nachhaltig beeinträchtigt, denen es gelungen ist, eine ihrer Begabung entsprechende Ausbildung oder berufliche Tätigkeit aufzunehmen beziehungsweise auszuüben“ (Rn. 43).1.Nach der Feststellung, dass es sich bei der Legasthenie um eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne handelt, wurde geprüft, ob der Zeugnisvermerk eine Benachteiligung darstellt.Die drei Jugendlichen (Kläger) leiden an einer fachärztlich diagnostizierten Legasthenie, weshalb sie Nachteilsausgleich und Notenschutz erhielten. Der Notenschutz wurde im Abiturzeugnis vermerkt. Dieser Zeugnisvermerk wurde nur bei Schülerinnen und Schülern mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung (LRS) angewandt.Dazu stellt das BVerfG fest, dass die „Anbringung von Zeugnisbemerkungen über die Nichtbewertung prüfungsrelevanter Leistungen die Beschwerdeführer (die drei Jugendlichen mit einer Legasthenie) in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GGverletze“ (Rn. 33).„Durch die Zeugnisbemerkung verschlechtert sich die Situation der betroffenen Schüler mit einer Legasthenie gegenüber Schülerinnen und Schülern, bei denen die Rechtschreibleistung bewertet werden“ (Rn. 49).Allerdings schränkt das BVerfG ein, dass die Benachteiligung nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nur dann vorliegt, wenn Personen mit Behinderungen gegenüber solchen ohne Behinderungen oder gegenüber Personen mit anderen Behinderungen in benachteiligender Weise ungleich behandelt werden (Rn. 66).Außerdem hält das BVerfG fest, dass der Beherrschung der Rechtschreibregeln als Teil der Kernkompetenz des Lesens und Schreibens eine besondere Bedeutung zukommt, sodass, wie es in Bayern von der Schulaufsicht vertreten wird, die Rechtschreibkompetenz zum Bestandteil der durch das Abitur vermittelten allgemeinen Hochschulreife gehört (Rn. 90 und 85).Hierzu führt das BVerfG aus, dass „die von der bayerischen Schulaufsicht mit der Festlegung der Rechtschreibung als Prüfungsstoff des Abiturs verfolgten verfassungsrechtlichen Ziele in einem angemessenen Verhältnis zur damit verbundenen Benachteiligung der legasthenen Schüler steht“ (Rn. 91). In der Begründung wird auf einen Bericht in der mündlichen Verhandlung verwiesen, demnach „Schüler mit einer Legasthenie nur ausnahmsweise wegen der Bewertung ihrer Rechtschreibleistung nicht in der Lage sind, das Abitur zu bestehen. Stattdessen wird der Antrag auf Nichtbewertung der Rechtschreibleistungen regelmäßig gestellt, um zu vermeiden, dass wegen der Bewertung dieser Leistungen diejenigen Zehntelpunkte bei der Durchschnittsnote fehlen, die für den Zugang zu einem zulassungsbeschränkten Studiengang notwendig sind“ (Rn. 88).Zu der Frage der Nicht-Benotung (Notenschutz) äußert sich das BVerfG, dass eine „derartige Bevorzugung nach Art 3 Abs 3 Satz GG erlaubt, aber nicht ohne weiteres geboten“ [ist]. „Ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen Teilnehmer mit Behinderungen an Schulabschlussprüfungen abweichende Prüfungsmaßstäbe verlangen können, kann hier offenbleiben, weil bei den Beschwerdeführern von der Bewertung der Rechtschreibleistungen abgesehen wurde (Rn 98).Das BVerfG weist jedoch selbst darauf hin, dass im konkreten Fall „die Rechtschreibleistungen (...) nicht durch vorrangige schulische Fördermaßnahmen so weit hätten verbessert werden können, dass [die Abiturienten] auch ohne deren Nichtbewertung mit gleichen Erfolgschancen an der Prüfung hätten teilnehmen können.“ (Rn. 99) Mit anderen Worten weist das Gericht darauf hin, dass ein Anspruch auf Nichtbewertung der Rechtschreibleistung bei einer Legasthenie sehr wohl bestehen kann.1.Das BVerfG stellt fest, dass eine „Pflicht zur Inklusion auch bei Schulabschlussprüfungen“ besteht (Rn 96).Zu den Fördermaßnahmen in den Prüfungsbedingungen führt das BVerfG aus, dass dazu die Maßnahmen zählen, „die eine gleiche Teilhabe an der Prüfung ermöglichen und daher nach Art. 3 Abs 3 Satz 2 GG geboten sind, die Änderung derjenigen Prüfungsbedingungen, die Schülerinnen und Schüler wegen einer behinderungsbedingten Einschränkung daran hindern, ihre Leistungsfähigkeit ebenso gut darstellen zu können wie Nichtbehinderte. […] Hierzu zählen „etwa die Zulassung spezieller Arbeitsmittel, die Bereitstellung besonderer Räumlichkeiten oder die Ersetzung mündlicher Prüfungsteile durch schriftliches Ausarbeiten und umgekehrt“ (Rn 97). Bei solchen inklusiven Fördermaßnahmen – die bislang als „Nachteilsausgleich“ bezeichnet wurden – ist weiterhin eine Zeugnisbemerkung unzulässig.Was bedeutet die Feststellung der Behinderung für Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung?Die Feststellung, dass die Lese- und Rechtschreibstörung eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne ist, sollte für die Betroffenen in Verbindung mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK, www.behindertenbeauftragter.de/DE/AS/rechtliches/un-brk/un-brk-node.html), z. B. im Bereich Schule dazu führen, dass die Maßnahmen des Nachteilsausgleich und Notenschutz generell Anwendung finden, unabhängig von Schulform und Klassenstufe. Diese sollten nicht auf einzelne Fächer, den Unterricht oder Prüfungen begrenzt werden, sondern in allen Bereichen angewandt werden. Empfehlungen zur Ausgestaltung findet sich u. a. in Schulte-Körne (2021), beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e. V. (www.bvl-legasthenie.de).Auch wenn die Schulaufsicht durch die einzelnen Bundesländer gewährleistet wird, erfordert die Feststellung der Lese- und Rechtschreibstörung als Behinderung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und den daraus folgenden Maßnahmen zur Inklusion eine einheitliche Regelung in den Bundesländern. Es sollte daher sichergestellt werden, dass Kinder und Jugendliche mit einer Lese- und Rechtschreibstörung in allen Bundesländern einen chancengleichen Zugang zu Ausbildung und Beruf erhalten.Mit dem Urteil vom 22.11.2023 ist klargestellt, dass Kinder und Jugendliche aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG einen Anspruch auf inklusive Fördermaßnahmen haben, selbst wenn dies das jeweilige Schulrecht bislang nicht vorsieht. Dies dürfte für den Fall, dass durch solche die Rechtschreibschwierigkeiten nicht vermindert werden, auch für den Notenschutz gelten. Nur bei letzterem verlangt das Gericht einen Zeugnisvermerk.Die schulische Praxis der wiederholt geforderten, regelmäßigen Untersuchungen der Kinder und Jugendlichen mit einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung zur Feststellung dieser Störungen führt zu einer ungerechtfertigten Belastung und ist nicht gerechtfertigt, da die Behinderung, wie das BVerfG festgestellt hat, meist ein Leben lang besteht.Die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und Notenschutzes sollten nicht auf die schulische Ausbildung begrenzt sein, sondern alle Bereiche der Aus- und Weiterbildung betreffen, da die schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Betroffenen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung längerfristig bestehen.Es gilt gemäß Art. 26 UN-BRK, dass „Diskriminierung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl-, Einstellungs- und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Aufstiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen [verboten ist]“.Die Feststellung einer Lese- und Rechtschreibstörung setzt, wie im Urteil dargelegt, eine fachärztlich gestellte Diagnose voraus. Daher ist die Anwendung der ICD-10 in Verbindung mit der S3-Leitlinie zur Diagnostik und Förderung bei Lese- und/oder Rechtschreibstörung notwendig. Eine Abgrenzung von einer vorübergehenden Schwäche im Lesen und/oder Schreiben ist ebenfalls notwendig. Dies bedeutet für die Praxis, dass die multiaxiale Diagnostik, wie sie auch in der S3-Leitline empfohlen wird, angewandt werden soll.Was bedeutet das Karlsruher Urteil für die Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie?Die Lese- und Rechtschreibstörung ist eine der häufigsten Störungen in der ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung. Die fachärztliche Diagnose ist die Voraussetzung für die Anerkennung der LRS als Behinderung. Mit dem Urteil wird der Bedarf an fachärztlicher Diagnostik steigen. Dieser steigende Bedarf darf nicht zulasten der leitlinien-orientierten multiaxialen Diagnostik gehen. Die Revision der S3-Leitlinie zur Diagnostik und Förderung bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung wird 2024 abgeschlossen werden. Bis zu dieser Zeit gelten die bisherigen Empfehlungen zur Diagnostik und Förderung. Da bereits im Rahmen der sozialrechtlichen Begutachtung nach § 35a SGB VIII die multiaxiale Diagnostik Standard im Rahmen der Begutachtung ist, sollte die multiaxiale Diagnostik immer auch Standard des diagnostischen Vorgehens bei der Lese- und/oder Rechtschreibstörung sein.Für die Beratung der Betroffenen und der Angehörigen ist offen, wie sich das Urteil auf die schulrechtlichen Regelungen auswirkt. Auch wenn das Urteil dazu führen wird, dass der Zeugnisvermerk bei den Klägern aus dem Abiturzeugnis herausgenommen wird, so ist doch die Feststellung, dass Zeugnisvermerke erforderlich sind, um einen leistungsbezogenen chancengleichen Zugang zu Ausbildung und Beruf zu ermöglichen, kritisch zu bewerten. Zeugnisvermerke zur Gewährung von Notenschutz wegen einer LRS sollte es zukünftig, gemäß des Urteils des BVerfG, nicht mehr geben, es sei denn, es würde Notenschutz auch bei anderen Formen der Behinderungen gewährt und diese müssten in gleicher Weise im Abiturzeugnis vermerkt werden. Das BVerfG hat sich diesbezüglich nur zum Abiturzeugnis geäußert, da mit diesem Zeugnis zentral die Zugangsberechtigung zum Studium verbunden ist. Daher ist der Zeugnisvermerk unter den genannten Voraussetzungen auch nur im Abiturzeugnis möglich.Eltern sind oft verunsichert, ob sie sich die Feststellung einer Behinderung aufgrund einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung für ihr Kind wünschen. Oft sind sie verunsichert, wenn beispielsweise Lehrkräfte ihnen davon abraten. Die fachärztliche Beratung sollte daher die Rechte und Möglichkeiten der Entlastungen, die mit der Anerkennung der LRS als Behinderung verbunden sind, für die betroffenen Kinder, Jugendlichen und die Angehörigen einschließen.Was bedeutet das Karlsruher Urteil für die Gesellschaft?Menschen mit Lese- und Rechtschreibstörungen werden nicht selten in Schule und Beruf als weniger begabt betrachtet, Schüler werden gehänselt, ausgegrenzt, Eltern erleben sich mit dem Problem alleingelassen, die Krankenkassen weisen die Forderung nach der Finanzierung der Förderung und Behandlung mit dem Hinweis darauf, dass die Zuständigkeit für die LRS in den Bereich der Bildungspolitik falle, zurück. Der letzte Punkt scheint mit dem Karlsruher Urteil erneut in Frage zu stehen, da das BVerfG eindeutig feststellt, dass es sich bei der Lese- und Rechtschreibstörung um eine fachärztlich festgestellte Diagnose einer neurobiologischen Erkrankung handelt. Daher wird zukünftig zu prüfen sein, welche evidenzbasierten Behandlungsmethoden, die bereits in der S3-Leitlinie und der einschlägigen internationalen Forschungsliteratur beschrieben sind (siehe hierzu Galuschka et al. 2014, 2020), vom G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) zur Behandlung bei der LRS anerkannt werden. Von diesen im Rahmen der Heilbehandlung zu erbringende Leistungen sind die Leistungen im Sinne des Sozialrechts (Rehabilitationsmaßnahmen, Integrationsmaßen gemäß SGB VIII und IX) abzugrenzen.Auch das weit verbreitete Vorurteil, Menschen mit einer LRS seien dumm und sollten nicht das Gymnasium besuchen, wurde durch die Feststellungen im Karlsruher Urteil als unzutreffend deutlich.Für viele betroffene Erwachsene ist es ein Stigma, eine LRS zu haben (siehe dazu Dokumentarfilm Arte Mediathek 2023: https://www.arte.tv/de/videos/106664-000-A/legasthenie-wir-dachten-immer-du-bist-dumm). Menschen mit einer LRS müssen oft mit besonderen Fertigkeiten hervortreten, besondere Stärken nennen, um akzeptiert werden. Dass es ihnen gelingt, zeigt auch das Beispiel des Ministerpräsidenten von Thüringen, Bodo Rameloh (Arte Mediathek).Eine zentrale Anforderung an die Gesellschaft ist, dass Menschen mit LRS im Lebensalltag die notwendigen Unterstützungen und Hilfen bekommen und keine Ängste mehr haben brauchen öffentlich zu sagen, dass sie eine Legasthenie haben.LiteraturGaluschka, K., Görgen, R., Kalmar, J., Haberstroh, S., Schmalz, X. & Schulte-Körne, G. (2020). Effectiveness of spelling interventions for learners with dyslexia: A meta-analysis and systematic review. Educational Psychologist, 55(1), 1–20. 10.1080/00461520.2019.1659794 First citation in articleCrossref, Google ScholarGaluschka, K., Ise, E., Krick, K. & Schulte-Körne, G. (2014). Effectiveness of treatment approaches for children and adolescents with reading disabilities: a meta-analysis of randomized controlled trials. PLoS One, 9(2), e89900. 10.1371/journal.pone.0089900 First citation in articleCrossref Medline, Google ScholarSchulte-Körne, G. (2021). Lese-/Rechtschreibstörung: Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit LRS wirksam unterstützen und fördern. (Bd. 1). Stuttgart: Kohlhammer. First citation in articleCrossref, Google ScholarFiguresReferencesRelatedDetails Volume 52Issue 1Januar 2024 ISSN: 1422-4917eISSN: 1664-2880 History Licenses & Copyright© 2024Hogrefe AGPDF download
Referência(s)